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Irrwitziger EBM: Ich bin keine atypische Ärztin!

Autor: Dr. Frauke Höllering

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Was halten Sie von den neuen EBM-Leitlinien? MT-Kolumnistin Dr. Frauke Höllering nimmt dazu Stellung!

Ich will nicht. Ja, ich bin geradezu bockig wie ein Esel, der seine Hufe in den Sand stemmt und keinen Millimeter vorrücken will. Auch ich will mich keinen Millimeter vorwärtsbewegen, jedenfalls nicht in Richtung des neuen EBM.


„Frau Doktor, kommen Sie mit zur EBM-Fortbildung?“, hatte mich meine Mitarbeiterin freundlich gefragt, „wir fahren alle zusammen.“ „Nein“, sagte ich spontan, „ich will nicht!“ Aber dann schaute ich auf diesen leicht schief gelegten Kopf und die fragenden Augen und brummelte: „Also gut. Aber muss das ausgerechnet montags sein?“


Großkampftag und dann noch Ziffernsalat, was für eine Horrorvorstellung! Mein Kopf hatte bis dahin tief im Sand gesteckt. Natürlich hatte ich von dem neuen EBM gelesen, beim Überfliegen von Artikeln irgendwelche Ziffern aufgeschnappt, die mir völlig fremd waren, und auch neue Regelungen und irrwitzige Begründungen überflogen.


Aber wenn ich das tat, weigerten sich meine grauen Zellen, das Gelesene zu überarbeiten. „Wie viele Jahre muss ich noch arbeiten bis zur Rente?“, brannte sich die Frage aller Fragen in gro­ßen Buchstaben in meine Gedanken, „das hier kann und will ich einfach nicht wissen!“


Was war passiert? Ich, die lammfromm (schon wieder ein Tiervergleich?!) eine Änderung nach der anderen hatte über mich ergehen lassen, die immer wieder neue Ziffern gepaukt und wieder vergessen hatte, die Regelungen, Ausnahmen, Bedingungen und Richtgrößen verinnerlicht hatte, wollte nicht mehr.

»Warum 
gibt es nur fünfstellige Ziffern?«

Obgleich meine Rentenberechnung nicht zufriedenstellend ausgefallen war, weil noch bummelige zehn Jahre Praxis vor mir lagen, hatte ich mich geweigert, wieder eine absurde Neuordnung nachzuvollziehen. „Erinnert sich irgendjemand daran, dass es früher mal Ziffern wie Eins und Zehn gab?“, frage ich jetzt meine Mitarbeiterinnen.


„Wir haben uns mittlerweile fünfstellige Ziffern in den Kopf gebimst und schon damals konnte mir keiner erklären, was das soll, und jetzt soll es schon wieder neue fünfstellige Ziffern geben? Warum kann man nicht ein einziges Mal eine Ziffer behalten, die man schon kennt, oder gar zu Ein- und Zweistelligem zurückkehren?“


Ich sehe in Augen, die teils Mitleid, teils Resignation ausdrücken. Kein Wunder, denn auch meine Damen haben wenig Lust, immer wieder neue Ziffern zu pauken. Sie haben meist noch mehr Neuerungen vor sich, weil sie jünger sind als ich. Aber eine Antwort kriege ich nicht – habe ich auch nicht erwartet.


Ich will nicht nur keine neuen Ziffern lernen, ich will auch keine „atypische Hausärztin“ sein. Nur, weil ich akupunktiere, bin ich atypisch? Darf ich für die multimorbiden Patienten, die wir in unserer Gemeinschaftspraxis betreuen, keine Ordinationsgebühr und keine Chronikerziffern mehr abrechnen, wenn ich ihre Rückenschmerzen mit Akupunktur lindere oder durch ein paar Nadeln das neue Knie noch ein bisschen aufschieben kann?

»Soll ich jetzt jedem den Schallkopf auf den Bauch halten?«

Ich glaube, ich spinne! Dafür ein bisschen geria­trisches Assessment, um gegen eine lächerliche Gebühr zu beobachten, wie mühselig die armen Patienten beim „Timed up and go“-Test vom Stuhl hochkommen? Akupunktieren soll ich sie nicht, aber stoppen, wie lange sie für‘s Aufstehen brauchen. Was für ein Irrwitz!


Soll ich mir wirklich Gedanken darüber machen, dass ich nicht zu viel und nicht zu wenig Sonographien durchführen darf, weil beides nicht gut für meine Abrechnung ist? Muss ich dann auf jeden Patienten einen Schallkopf halten, der nicht rechtzeitig aus der Praxis flüchten kann („timed up and go“), wenn es in die eine Richtung eng wird. Oder soll ich eisern auf die Sonographie verzichten, wenn eine Patientin augenscheinlich von Gallenkoliken geschüttelt wird, wenn es ein bisschen viel war? Das will ich nicht!

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