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Wie Ärzte Opfern häuslicher Gewalt helfen können

Gesundheitspolitik Autor: Ruth Bahners

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„Symptome, wie Sie sie beschreiben, stehen häufig im Zusammenhang mit Gewalt. Kann es sein, dass Ihnen jemand Gewalt angetan hat?“ Diese Frage kann für betroffene Patienten das ersehnte Ende eines oft jahrelangen Martyriums einläuten.

Ärzte sind meist der erste Ansprechpartner von Menschen, die in ihrem häuslichen Umfeld Gewalt ausgesetzt sind. Das sind vor allem Frauen. „Die Gefahr, Opfer häuslicher Gewalt zu werden, ist für Frauen größer als die Gefahr von Unfällen oder Krebserkrankungen“, erklärt Dr. Theodor Windhorst, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe. Einer europäischen Studie zufolge erleben 22 % der deutschen Frauen körperliche und/oder sexuelle Gewalt in ihrer Partnerbeziehung, die Hälfte ist psychischer Gewalt ausgesetzt.

Doch die wenigsten Patientinnen kommen mit offensichtlichen Symptomen wie blauen Flecken oder dem blauen Auge in die Arztpraxis. Meist sind es unerklärliche psychosomatische Beschwerden, Schmerzsymptome ohne erkennbare medizinische Ursache, vor allem im Ober- und Unterbauch, Kopf- oder Rückenschmerzen, wegen derer die Betroffenen immer wieder die Praxis aufsuchen. Auch Schlafstörungen oder Depressionen können Anlass für den Arztbesuch sein.

„Besonders depressive Erkrankungen, die nur schlecht auf übliche Behandlungsformen ansprechen, sollten den Verdacht auf häusliche Gewalt lenken“, rät Dr. Wolfgang Wöller, leitender Abteilungsarzt der Rhein-Klinik Bad Honnef. Letztlich sollte sich bei allen Beschwerdebildern ohne erkennbare medizinische Ursachen die Aufmerksamkeit auf häusliche Gewalt lenken. Nicht nur bei Frauen und Kindern. Auch Männer und vor allem alte Menschen sind Gewalt ausgesetzt.

Aus Angst oder Scham sprechen die Patienten von sich aus nur selten von den Gewalthandlungen als Ursache ihrer Beschwerden. Deshalb sollte die Frage nach Gewalt fester Bestandteil jeder Erst­anamnese sein, genauso wie Fragen nach Gewichtsverlust, Krankheiten in der Familie oder dem Alkohol- und Tabak­konsum, fordert Nord­rheins Kammerpräsident Rudolf Henke. Auf eine solche im Vertrauen gestellte Frage habe die Patientin vielleicht schon Jahre gewartet. Auch die Hemmschwelle des Arztes schwinde, wenn diese Frage zur Regelfrage werde.

„Bringen Sie Ihre Sorge zum Ausdruck, halten Sie das Gesprächsangebot aufrecht“

„Doch lassen Sie Ihrer Patientin Zeit, darauf zu antworten“, rät Henke. Ärzte neigten dazu, Gespräche bald in die Hand zu nehmen. Normalerweise ließen die Kollegen ihren Patienten gerade mal 18 Sekunden Zeit, um eine Frage zu beantworten. „Das ist viel zu kurz“, meint Henke. Wesentlich sei, die Patientin zu nichts zu drängen, auch wenn sie offensichtliche Gewalterfahrungen verneint.

„Bringen Sie noch einmal Ihre Sorge zum Ausdruck und halten Sie das Gesprächsangebot aufrecht“, rät Henke, etwa durch folgende Formulierung: „Mir ist bewusst, dass es schwer ist, über dieses Thema zu sprechen, und es ist ausschließlich Ihre Entscheidung. Es wäre schön, wenn Sie daran denken, dass Sie hier Unterstützung finden, wenn Sie darüber sprechen oder Informationen haben möchten. Niemand hat es verdient, geschlagen, bedroht oder erniedrigt zu werden.“ Der konkrete Hinweis auf Hilfestellen kann sich anschließen.

Die Angst vor der Ablehnung oder der Eskalation

Aber seien Sie nicht frustriert oder gar verärgert, wenn die Betroffenen erst mal nicht auf Ihre Hinweise reagieren und in der gewaltsamen Partnerbeziehung bleiben. „Der Arzt sollte die vielfältigen Ängste berücksichtigen, denen die Opfer häuslicher Gewalt ausgesetzt sind“, empfiehlt Dr. Wöller. Das kann die Angst vor Ablehnung und Unverständnis, vor einer Eskalation in der Partnerschaft, um die Kinder oder das ungeborene Leben sein. Dieses Wissen bewahre den Arzt davor, das vom Patienten Erlebte zu bagatellisieren oder gar das Opfer mit verantwortlich zu machen.

„Auch die Praxismitarbeiterinnen sollten zu dieser Problematik geschult werden“, rät der Düsseldorfer Hausarzt Dr. André Schumacher. Sie könnten z.B. darauf achten, wer die Patientin in die Praxis begleitet, ein besorgtes Familienmitglied oder der Peiniger selbst, der sicherstellen will, dass das Opfer über die Ursachen seiner Probleme schweigt.

Berichtet die Patientin von Gewalterfahrungen, kann der Arzt eine Untersuchung anbieten, um das Ausmaß der körperlichen und psychischen Gewalt zu erfassen. Dabei sollte der Kollege genau erklären, welche einzelnen Schritte der Untersuchung notwendig sind und warum. „Damit kann er der Patientin helfen, das Gefühl der Selbstbestimmung über sich und ihren Körper zurückzugewinnen und Angst und Scham zu überwinden“, meint Kammerchef Henke. Aber auch hier gelte wieder: „Zu nichts drängen!“

Die Untersuchungsergebnisse sollten gerichtsfest dokumentiert werden, denn die Dokumentation von neuen und alten Verletzungen und Beschwerden stärkt das Opfer in zivil- und strafrechtlichen Verfahren, etwa bei der Beantragung von Schutzmaßnahmen, einer Klage wegen Körperverletzung, Sorgerechtsentscheidungen oder aufenthaltsrechtlichen Angelegenheiten. Die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe haben einen Leitfaden erstellt, der einen Dokumentationsbogen inklusive Körperschema enthält.

Bei der weiteren Unterstützung des Opfers ist der Arzt allein überfordert. „Er sollte sich in ein Netzwerk einbinden, auf das er im Fall des Falles zurückgreifen kann“, rät Marion Steffens, Leiterin des Kompetenzzentrums Frauen und Gesundheit NRW. Die Weitervermittlung der Patientin an spezialisierte psycho-soziale Unterstützungseinrichtungen sei ein wichtiger Baustein der medizinischen Intervention.

„Die ärztliche Schweigepflicht bietet Opfern den geschützten Raum, den sie brauchen“

Sind Kinder Opfer von Gewalt, sollte der behandelnde Arzt in Betracht ziehen, mit dem Jugendamt Kontakt aufzunehmen, um weitere Übergriffe auszuschließen. Das kommt vor allem dann infrage, wenn ältere Verletzungen auf eine Wiederholungsgefahr hindeuten, die Erziehungsberechtigten unzugänglich sind oder den Arzt nicht wieder aufsuchen. „Dann kann sich das Recht des Arztes, die Behörden zu verständigen, auch zu einer Hand-lungspflicht verdichten“, erläutert Dr. jur. Dirk Schulenburg, Justiziar der Ärztekammer Nordrhein.

Die Kinderärzte der Initiative RISKID fordern die Möglichkeit, zumindest interkollegial Informationen über den Verdacht von Misshandlungen austauschen zu können. Sie werden unterstützt von den Oppositionsparteien im nord­rhein-westfälischen Landtag. Eine Änderung des Heilberufegesetzes soll Ärzten diesen Informationsaustausch bei hinreichendem Verdacht auf Kindesmisshandlung erlauben.

Bei erwachsenen Gewaltopfern, so Schulenburg, sei der Arzt jedoch unbedingt an die Schweigepflicht gebunden, es sei denn, es besteht eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben. „Die Opfer müssen Herr des Verfahrens bleiben“, verlangt Steffens. Die ärztliche Schweigepflicht biete den Opfern gerade den geschützten Raum, den sie bräuchten. Die Weitergabe von Informationen könne die Opfer sogar gefährden.

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