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Keine Heimat, keine Versicherung – kein Recht auf Gesundheit?

Gesundheitspolitik Autor: Anouschka Wasner

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Menschen, die nicht die nötigen Papiere haben, haben faktisch keinen Zugang zum Gesundheitssystem – auch wenn ihnen dieser gesetzlich sogar teilweise zusteht. Dabei sind viele dieser „Illegalen“ seit vielen Jahren in Deutschland, gehen einer Arbeit nach und haben Kinder.

Wenn in der Mainzer Hausarztpraxis von Dr. Elisabeth Rix das Telefon läutet und der Name „Medinetz“ fällt, wissen die MFA, was sie zu tun haben: Die Person bekommt schnellstmöglich einen Termin und wird als Privatpatient aufgenommen – mit dem Vermerk: Keine Rechnung! Denn wer von Medinetz kommt, hat keine Krankenversicherung und auch kein Geld.

Illegalität bedeutet in ständiger Angst zu leben

Seit über zehn Jahren arbeitet Dr. Rix in einer Gemeinschaftspraxis in der Mainzer Innenstadt. Seit über zwei Jahren unterstützt sie die Mainzer Gruppe der Organisation Medinetz, in der sich Ärzte, Krankenschwestern und Medizinstudierende in erster Linie um die medizinische Versorgung von Menschen ohne Aufenhaltsstatus kümmern. Wer sich hier engagiert, weiß: In der Illegalität zu leben, bedeutet ständige existenzielle Angst – für manche würde die Ausweisung aus Deutschland „nur“ ein Leben in Elend und Perspektivlosigkeit bedeuten, die meisten der Betroffenen sind traumatisiert und viele müssen befürchten, im Herkunftsland festgenommen, gefoltert oder verfolgt zu werden.

Als Illegalisierter krank zu werden, kann leicht zum lebensbedrohlichen Problem werden – körperlich wie psychisch. Zwar haben Menschen ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bei akuten Erkrankungen und Schmerzen gesetzlichen Anspruch auf medizinische Leistungen. Doch bisher war solch eine Beanspruchung mit einer Meldung des Sozialamtes an die Ausländerbehörde verbunden. Wegen der Gefahr des Entdecktwerdens verhindern die Betroffenen zunächst unter allen Umständen den Kontakt zu Einrichtungen jeder Art.

Erst unter großem Leidensdruck beginnen sie, Auswege zu suchen und finden – wenn sie Glück haben – durch Informationsflyer oder Mund-zu-Mund-Propaganda Kontakt zu Hilfsorganisation wie Medinetz.

Aufgrund des andauernden Stresses bzw. auch der individuellen Geschichte sind die Beschwerden von Flüchtlingen oft auch psychosomatischer Art. Dr. Rix erzählt: „Mein erster Patient von Medinetz war russischsprachig, konnte allerdings gut Deutsch, weil er schon seit längerem illegal in Deutschland lebte. Er hatte andauernde beängstigende Schmerzen in der Brust und war äußerst besorgt, ob er seinen Job hier weiter machen könnte. Für einen Illegalen bedeutet Arbeitsunfähigkeit das Aus. Ich habe zum Glück keine Hinweise auf eine Herzkrankheit gefunden – psychosomatische Beschwerden sind unter solchen Lebensbedingungen nicht verwunderlich. “

Ehrenamt stößt bald an finanzielle Grenzen

Ein überschaubarer Fall, in dem keine teuren Medikamente und keine Facharztbesuche notwendig waren. Ist das jedoch vonnöten, muss Dr. Rix den Fall an Medinetz zurückgeben. Dort wird dann an einen Facharzt vermittelt, der wie Dr. Rix gratis arbeitet. Teure Medikamente oder Behandlungen müssen mit Spendengeldern finanziert werden.

Dass dieses System nur begrenzt tragfähig ist, ist naheliegend. Bei einem 78-jährigen Südamerikaner hätte es an seine Grenzen stoßen können: Die Tochter kam zu Medinetz und berichtete, dass ihr Vater seit langem schlecht sehe und dass er sich in der letzten Zeit deswegen nicht mehr zurecht finde. Vor Jahren sei in seinem Heimatland grauer Star diagnostiziert worden und sie befürchtete, dass jetzt eine Operation notwendig sei. Ein Augenarzt diagnostizierte tatsächlich eine leichte Linsentrübung. In erster Linie stellte er jedoch eine starke Fehlsichtigkeit von -6,5 dpt fest. Bedauerlich, dass der Patient aus Angst vor dem Arztbesuch und den Operationskosten über Jahre seines Lebens extrem eingeschränkt war, obwohl er doch letztlich nur eine Brille benötigte.

Ein anderer Fall: Eine 28-Jährige aus Tansania, die als Au-pair nach Deutschland gekommen war, stellte sich im ersten Trimenon bei Medinetz vor. Das Kind stammte vom Vater der Pflegefamilie, der sich nicht zur Vaterschaft bekannte. Die Patientin war nach eigenen Angaben beschwerdefrei, es wurde trotzdem eine Vorsorgeuntersuchung organisiert. Eine Gynäkologin, die mit Medinetz zusammenarbeitet, stellte ein unter der Schwangerschaft entwickeltes Gestationsrisiko fest – um das Kind nicht zu gefährden, waren engmaschige Kontrollen nötig.

Warum kümmert sich jemand wie Dr. Rix um solche Patienten, für die niemand zahlen möchte? Die Ärztin: „Das unterscheidet sich ja nicht von meinem grundsätzlichen Anliegen als Hausärztin: Wenn ein Mensch Hilfe braucht, soll er sie bekommen. Das ist eine Frage der Menschlichkeit.“ Doch Menschlichkeit gebietet nicht nur konkrete Hilfeleistung, sondern auch, jedem ein Recht auf medizinische Versorgung zuzugestehen, unabhängig vom Status. So sah es auch der 113. Deutsche Ärztetag; er bekräftigte die Forderung nach einem anonymen Krankenschein.

113. Ärztetag fordert anonymen Krankenschein

Darunter versteht man einen Krankenschein, der zum Beispiel unter ärztlicher Leitung von Stellen des Gesundheitswesens ausgegeben würde. Damit würde die Datenerhebung und die Bedürftigkeitsprüfung unter die Schweigepflicht fallen. Auf diesem Weg könnte sowohl die finanzielle Überlastung als auch das Risiko der Aufdeckung als illegal Lebender abgefangen werden.

Mit einer vom Bundesrat am 18. September 2009 verabschiedeten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift kam etwas Bewegung in die Gesetzeslage. Denn damit wird klar, dass sich der Geheimnisschutz bis in die Verwaltungen der Krankenhäuser und in die Sozialämter hinein erstreckt.

Schweigepflicht reicht jetzt bis zur Verwaltung

Konkret heißt das: Die Sozial­ämter sind nicht mehr verpflichtet, die Namen und Adressen von Illegalisierten an die Ausländerbehörde weiterzugeben. Das ist ein politischer Fortschritt – auch wenn in der Praxis weiterhin die Abrechnungsmodalitäten ungeklärt sind und viele Städte unwillig erscheinen, diese Verwaltungsvorschrift umzusetzen.

Die langjährig bei Medinetz engagierte Allgemeinärztin Christa Blum würde gerne testen, ob diese Vorschrift nicht auch bei der ambulanten Versorgung angewandt werden kann. Dann könnten Niedergelassene im Anschluss an die Behandlung eine Privatrechnung beim Sozialamt einreichen. Doch auch das wäre keine grundsätzliche Lösung: Denn die verlängerte Schweigepflicht gilt nur für die Akutbehandlung. Planbare ambulante und stationäre Behandlungen müssen weiterhin vorab vom Patienten beim Sozialamt beantragt werden. Womit zum Beispiel bereits eine Impfung bei Dr. Rix für den Patienten die Abschiebung zur Folge haben kann – auch wenn ihm die Impfung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz eigentlich zusteht.

Abrechnung ohne Aufenthaltsstatus
Achtung: In jedem Fall sollte vor einer Weitergabe des Namens und insbesondere der Adresse des Patienten das Risiko seiner Abschiebung oder des Arbeitsplatzverlustes erwogen werden!

  • Bei Arbeitsunfällen können die Behandlungskosten selbst bei illegaler
    Beschäftigung ohne Aufenthaltsstatus gegenüber der gesetzlichen Unfallversicherung geltend gemacht werden.
  • Nach dem Opferentschädigungsgesetz können auch Menschen ohne
    Aufenthaltsstatus Leistungen beziehen, wenn sie Opfer einer Gewalttat in Deutschland geworden sind.
  • Wenn im Herkunftsland eine Krankenversicherung und ein Sozialversicherungsabkommen zwischen den Ländern besteht, ist im Rahmen der Leistungspflicht die gesetzliche Krankenversicherung im Heimatland der zuständige Leistungsträger.
  • Bei Erkrankungen im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes ist das
    Gesundheitsamt zur Kostenübernahme verpflichtet, sofern keine andere
    Abrechnungsmöglichkeit besteht.

Quelle: „Behandlung von Patientinnen und Patienten ohne gesicherten Aufenthaltsstatus“,
Broschüre der Ärztekammer Hamburg

Im Verborgenen
Deutschlandweit gibt es geschätzt 300 000 bis 500 000 Menschen ohne Aufenthaltsstatus. Einige davon sind bereits seit Jahren und Jahrzehnten hier, viele finanzieren ihr Leben als Schwarzarbeiter. In Hamburg geht man von 8 % Kindern aus – hochgerechnet bedeutet das, dass in Deutschland 24 000 bis 40 000 Kinder ohne Zugang zur Gesundheitsversorgung leben.
Bei vielen Ärztekammern kann man sich zur medizinischen Versorgung von Illegalisierten informieren, so zum Beispiel in Nordrein (http://www.aekno.de > Arzt > Dokumentenarchiv > Bürger/Patienten) , Sachsen (Ärzteblatt 4/2009), Bayern (http://www.blaek.de > Beruf/Recht > Rechtsvorschriften) und Hamburg (http://www.aerztekammer-hamburg.de > Service > Broschüren).

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