Anzeige

Das trifft fast alle Hausarztpraxen in Niedersachsen: Regresse wegen Chronikerziffern

Abrechnung und ärztliche Vergütung , Kassenabrechnung Autor: Dr. Gerd W. Zimmermann und Anouschka Wasner

„Sachlich-rechnerische Berichtigung“ trifft fast alle Hausarztpraxen im Land. „Sachlich-rechnerische Berichtigung“ trifft fast alle Hausarztpraxen im Land. © KV Niedersachsen/Fotolia/bluedesign
Anzeige

Dass Krankenkassen versuchen, das Ansetzen der Chronikerziffer in Zweifel zu ziehen, ist nicht neu. Bisher sind die Vorstöße ins Leere gelaufen. Jetzt wagen es AOK und DAK in Niedersachsen – die KV muss sich der Kritik stellen, dem wenig entgegenzusetzen.

Am 18. Mai 2017 hat die KV Niedersachsen über 3000 Hausärzten mitgeteilt, dass auf Antrag der DAK Gesundheit und der AOK Niedersachsen sachlich-rechnerische Berichtigungen gem. § 106 a SGB V (a.F.) bei der Abrechnung der Chronikerziffer wegen der fehlenden erforderlichen Arzt-Patienten-Kontakte vorgenommen werden sollen. Dabei bezieht sich die DAK auf den Ansatz der (alten) Chronikerziffer 03212 EBM, die AOK hingegen nimmt Quartale ins Visier, in denen die Chronikerziffern 03220/03221 Gültigkeit hatten.

Ähnliche Vorstöße gab es bereits in anderen Kassenärztlichen Vereinigungen. So wurden im Juni 2014 Hausärzte in Sachsen von ihrer KV informiert, dass die Barmer-GEK Rückforderungen für sachlich-rechnerische Richtigstellungen bei der Abrechnung der Chronikerpauschale vom ersten Quartal 2010 bis zum dritten Quartal 2013 gestellt habe. Rund ein Jahr später meldeten sich die Kassen in Nordrhein zu Wort – auch dort mit dem Argument, die alte Chronikerziffer Nr. 03212 sei nicht korrekt angesetzt worden. Voraussetzung für diese Ziffer sei die im § 62 der Chroniker-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) formulierte Dauerbehandlung: wenigstens ein Jahr lang, mindestens einmal pro Quartal. Somit müssten in den vier vor der Abrechnung der Chronikerpauschale unmittelbar vorhergehenden Quartalen Arzt-Patienten-Kontakte stattgefunden haben. Die hierüber abgeleiteten Rückforderungen: rund zwölf Millionen Euro.

Das sagt die KV Niedersachsen zum Stand der Prüfungen

Was haben die Kassen in Niedersachsen prüfen lassen? Die DAK Gesundheit hat für die Quartale I bis III 2013 das Ansetzen der EBM-Nr. 03212 prüfen lassen. Nach Korrekturen der KV Niedersachsen hat sich das Antragsvolumen um 400 000 Euro (21,6 %) auf 1,4 Millionen Euro reduziert. Es sind 3110 Praxen betroffen, es geht um insgesamt 81 420 Fälle. Die AOK Niedersachsen hat für die Quartale I bis III 2014 das Ansetzen der Nrn. 03220 und 03221 prüfen lassen. Nach Korrekturen der KVN hat sich das Antragsvolumen um 416 000 Euro (65 %) auf 416 000 Euro reduziert. Es sind 2087 Praxen betroffen, es geht um 102 630 Fälle. Warum konnte die KVN einen Teil der Vorwürfe zurückweisen? Die DAK ging davon aus, dass Arzt-Patienten-Kontakte (APK) in fünf statt vier aufeinanderfolgenden Behandlungsquartalen für die Abrechnung der Chronikerziffer nötig wären. Die AOK hatte verschiedene Nrn., die einen Kontakt darstellen, nicht berücksichtigt, genauso wenig, dass bei fachübergreifenden BAG / MVZ ein APK auch von einem Facharzt in der gleichen Praxis durch Abrechnung der jeweiligen Grundpauschale dokumentiert worden sein kann. Außerdem hatte die AOK die gesicherten Diagnosen bei einem Hausarztwechsel nicht berücksichtigt und auch nicht, ob die Versicherten in den letzten vier Quartalen bei der Krankenkasse versichert waren. Fehler bei der Zusammenführung von Daten sorgten auch dafür, dass die Vorquartalskontakte nicht dem Versicherten zugeordnet werden konnten. Um wie viel Geld geht es eigentlich? Bei der DAK geht es um einen Durchschnittregress pro Praxis von 458,18 Euro, bei der AOK um einen Durchschnittregress pro Praxis von 708,50 Euro. Dabei liegt der niedrigste Regressbetrag bei 10,40 Euro und der höchste bei 14 000 Euro. Das von den Ärzten zurückgeforderte Geld soll zu keiner Neuverteilung der betroffenen Zeiträume führen, sondern in die kommende MGV einfließen.

Und schon 2011 versuchte die Barmer-GEK, einen solchen Coup in Hessen zu landen. Dort wurde der Kasse offensichtlich klar gemacht, dass ihre Interpretation der Nr. 03212 inakzeptabel sei. Es folgten Versuche in Sachsen-Anhalt und in Sachsen, gleichermaßen erfolglos. In Sachsen-Anhalt bestätigten die Sozialgerichte zwar zunächst die Interpretation der Kassen, der Vorgang ging aber nicht in die höhere Instanz. Stattdessen übertrug die KBV mit dem 1. Oktober 2013 weitestgehend die von den Kassen gewünschte Definition auf die neuen Chronikerziffern 03220 und 03221. Damit waren die Auseinandersetzungen erst mal vom Tisch – aber auch die Chance, diese Frage auf dem Rechtsweg grundsätzlich zu regeln. Die bisherigen Versuche erfolgten allerdings, bevor das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 23.3.2016 betonte, dass „nach § 106a Abs 4 Satz 1 SGB V Krankenkassen und ihre Verbände gezielte Prüfungen durch die KÄV nach Abs 2 beantragen“ können. Die KV kann deswegen die Vorwürfe, sie sei zu wenig widerständig, nicht nachvollziehen. „Natürlich haben wir alle Vorwürfe geprüft und konnten so auch einen guten Teil zurückweisen“, sagt KV-Vize Dr. Jörg Berling. „Aber grundsätzlich ist die KV verpflichtet, das Ergebnis der von den Kassen durchgeführten Prüfung durch Bescheide an die Vertragsärzte umzusetzen.“

Chronikerzahl hat Einfluss auf die MGV-Aufteilung!

Mag sich auch die juristische Situation verändert haben, das Interesse der Kassen ist das gleiche wie 2011: den eigenen Chronikeranteil niedrig zu definieren, um so den eigenen Anteil an der Morbiditätsorientierten Gesamtvergütung (MVG) zu drücken. „Möglicherweise werden mit dieser Motivation die anderen Kassen nachpreschen bzw. bald die nächsten Quartale zur Prüfung einreichen“, so Dr. Berling. Dass dieser Kelch an den noch nicht Betroffenen vorübergeht, ist also nicht sehr wahrscheinlich.
Anzeige