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Arzt im Furor therapeuticus – die 96-jährige Patientin freut‘s

Speakers' Corner Autor: Dr. Dieter Jung

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Speakers Corner: Ein Platz für Themen, über die Sie sich aufregen. In dieser Ausgabe lässt sich Herr Dr. Dieter Jung über seine übereifrigen, jungen Kollegen und Kolleginnen aus, deren Handeln schon fast krankhaft sei.

Bitte schreib nichts, hat meine Frau gesagt. Denk daran, wie wir vor 40 Jahren als junge Ärzte helfend und idea­listisch auf die Patienten zugestürmt sind!

Doch muss ich mich an dieser Stelle einmal entlasten – voller Ehrfurcht vor dem jungen Kollegen oder der jungen Kollegin, der/die beim Wochenend-Vertretungsdienst der Hausärzte die Zeit fand, bei einer 96-Jährigen die Sexual­anamnese bis zum Zweiten Weltkrieg zurückzuverfolgen („seitdem keinen Mann mehr“) und dies ausführlich im Notdienstprotokoll festzuhalten.

Verschreibungswahn

Das hat der Patientin sicherlich gutgetan. Genau wie die dokumentierte komplette körperliche Untersuchung, von RR über Lunge bis Abdomen und Fiebermessen (36,8°), was wohl auch die Prüfärzte erfreut. Was aber dem Hausarzt, der die Dame seit 40 Jahren betreut, bitter aufstößt, ist, dass an die Patientin als Trost 50 Stück Tavor Expidet sublingual, 20 Tabletten Citalopram 20 mg und 20 Kapseln Vomex auf unser aller Kosten verteilt wurden – ohne die Mühe zu erkennen, die der Hausarzt anschließend haben wird, dies der Patientin wieder zu entziehen. Man muss da schon von Glück reden, dass Oxycodon wenigstens ein gelbes Rezept als Bremse verlangt. Und man darf die Behandlung nicht lächerlich machen. Schließlich wurde sogar (dokumentiert!) eine Fremd­ana­mnese mit dem Nachbarn erhoben.

Was dieser allerdings nicht wusste, ist, dass die Dame jeden Tag im Seniorentreff mit 20 anderen Alten zusammensitzt und dort erzählt, wie wunderbar der Notarzt ihr die eigentlich langweiligen Fernsehabende – da sie die Brille verlegt hat – verkürzt habe. Während der Hausarzt nie komme, wenn sie so alleine sei.

Helfer und Hilfesuchender bidingen sich gegenseitig

Im Holländischen findet man die beste Erklärung für solchen heilkundlichen Eifer: „Furor therapeuticus“ ist eine Krankheit, bei der der Arzt sein Handeln als lebensnotwendig für sich selbst sieht. „Karakteristiek voor deze constellatie, ook wel Florence Nightingalesyndroom genoemd, is dat de helper de hulpvragende zeker zo hard nodig heeft als omgekeerd.“

Aber meine Frau sagt ja zu Recht: Denk daran, wie wir als junge Ärzte waren...


Dr. Dieter Jung
Facharzt für Allgemeinmedizin
Heidelberg

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