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Bin kein Erfüllungsgehilfe für vorzeitige Berentung

Autor: Dr. Frauke Höllering

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Frühzeitige Berentung für einen beratungsresistenten Diabetiker? Dr. Frauke Höllering will nicht daran mitwirken, dass ein Mann in den besten Jahren zum Rentner wird.

Verblüfft schaute ich auf die Werte: Schon viele Jahre betreute ich diesen beratungsresistenten Diabetiker, und noch nie hatten sich so viele Parameter im letzten Quartal so deutlich gebessert. Cholesterin, HbA1C, Triglyzeride, Nüchternzucker: Bei jedem anderen hätten die Ergebnisse mein Stirnrunzeln provoziert, hier gaben sie Anlass zum Feiern.


„Wie haben Sie das gemacht?“, fragte ich den Fünfzigjährigen gespannt. „Ich war im Urlaub in Italien“, schmunzelte er. „Da haben wir viel Fisch gegessen und uns wahrscheinlich mehr bewegt.“ Ich lobte ihn, so wie er es verdient hatte, und bat ihn gleichzeitig, die mediterrane Kost und das Bewegungsprofil ein bisschen mit in den Alltag zu nehmen. „Ich bewege mich schon“, sagte er, „gerade bauen wir das Haus etwas um. Aber irgendwie klappt das zu Hause nicht so leicht wie im Urlaub.“


Jetzt beschäftigte mich doch die Frage, wie ein Ehepaar, das von Arbeitslosengeld II lebt, ein eigenes Haus bewohnt und nach Italien reisen kann: „Haben Sie wieder einen Job?“, fragte ich optimistisch. Doch er klärte mich auf, dass die Reise im Wohnwagen des Bruders stattgefunden habe und das Haus seinen Eltern gehören würde. Nun denn, schön wäre es gewesen. Kurz träumte ich von der Adria und darum hätte ich den nächsten Satz beinahe überhört: „Das Amt sagt, ich solle nun in Rente gehen.“ Jetzt war ich doch verblüfft.


In Rente? So früh? Natürlich hatte er ein erschütterndes Risikoprofil, aber dafür wohl eine eiserne Konstitution. Weder an den inneren Organen, noch an Augen oder Gefäßen hatten sich bisher Spätschäden eingestellt. Auf meine Nachfrage berichtete er von Bandscheibenvorfällen, Fußbeschwerden und Knieschmerzen. Er sei hiermit in dauerhafter orthopädischer Mitbehandlung.

"Nein, körperlich arbeiten könne er auf keinen Fall"

Mein Blick in die Kartei gab keine Aufklärung, denn kein Brief war eingescannt. Ach, würden die Orthopäden uns doch besser versorgen! Manche sind sehr fürsorglich, was den kollegialen Austausch angeht, andere gerade unerschütterlich in ihrer Verweigerungshaltung. Hier schien mir das von Vorteil: „Tja, den Antrag wird dann wohl der Kollege stellen müssen!“, konstatierte ich vergnügt. „Ich kann nämlich gar nichts dazu sagen.“


Aber dann stach mich der Hafer. Natürlich will das Arbeitsamt gerne Leute aus seiner Kartei los werden, die sich nicht vermitteln lassen und für jeden denkbaren Job eine Ausrede haben. Aber ich wollte nicht daran mitwirken, dass ein Mann in den besten Jahren zum Rentner wurde. Also fragte ich ein bisschen nach: Was hatte er für seinen Rücken getan? Physiotherapie? Oder wenigs­tens Rückenschule? Fehlanzeige!


Sein Übergewicht – mir schon immer wegen des Diabetes ein Dorn im Auge – wuchs mit jedem Jahr. Nein, körperlich arbeiten könne er nicht, dann täte alles weh. Und die Hausrenovierung? „Da muss ich ja immer nur ein paar Stunden am Stück arbeiten“, erklärte er, „danach bin ich völlig fertig“. Darum fand er die Idee mit der Rente ganz attraktiv.

"Ich merkte, mein Jähzorn kroch aus seinem Versteck"

Ich verlor langsam meine gute Laune: „Man muss natürlich wieder ein bisschen Kondition trainieren, wenn man viele Jahre nichts gemacht hat“, rügte ich leise. „Von null auf hundert geht nicht!“ Aber dann schlug ich mir selbst auf die Finger, weil ich merkte, wie mein Jähzorn langsam aus seinem Versteck kroch.


Hatte ich doch Patienten, die in weit schlechterer körperlicher Verfassung waren und weit älter, sich aber tapfer zur Arbeit schleppten. Doch zum Moralisieren saß ich schließlich nicht hier. „Dann sprechen Sie mal mit dem Orthopäden“, beendete ich den Dialog und war froh, als der gute Mann die Tür hinter sich schloss.


Bandscheibenvorfälle? Die habe ich auch – aber die merke ich nicht mehr, seitdem ich regelmäßig Sport treibe. Wenn ich nach einer langen Autofahrt aus meinem Wagen steige, dann bin ich so steif, dass ich vorsichtig zum Mann meines Herzens herüberschaue, der ein wenig jünger ist als ich. Wenn er sich ebenfalls ein wenig seltsam bewegt, bin ich beruhigt. Ich kann nicht mehr drei Sachen auf einmal machen und manchmal suche ich verzweifelt nach einem Namen oder nach einem Hotkey auf meiner Tastatur. Ich werde nervös, wenn das Wartezimmer zu voll wird, und bin an anstrengenden Tagen deutlich erschöpfter als früher.


Aber dennoch kann ich mir nicht vorstellen, seit fünf Jahren in Rente zu sein. Wissen diese Leute eigentlich, was sie sich antun?

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