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Das Syndrom der verlorenen Zeit

Autor: Dr. Jörg Vogel

Das „Problem der verlorenen Zeit“ entsteht durch die Behandlung von Patienten in „Unterlichtgeschwindigkeit“. Das „Problem der verlorenen Zeit“ entsteht durch die Behandlung von Patienten in „Unterlichtgeschwindigkeit“. © Fotolia/lassedesignen
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Das „Problem der verlorenen Zeit“ ist für uns Hausärzte Alltag – mit Wartelisten, Dringlichkeitscodes und längeren Arbeitszeiten.

Wer sich schon einmal mit Ufologie (Sie lesen richtig: nicht Urologie) beschäftigt hat, der kennt das „Problem der verlorenen Zeit“. Das heißt: Ein Mensch wird in ein Ufo entführt. Er bleibt dort Tage oder Wochen, fliegt also sozusagen mit. Darf er dann wieder auf die Erde zurück, sind hier inzwischen Jahrzehnte vergangen. Er trifft vielleicht uralte Verwandte oder Bekannte, die sich vage an ihn erinnern können. Ufoforscher erklären dieses Phänomen mit der Zeitverschiebung durch Licht – oder Überlichtgeschwindigkeit.

Das Problem: Behandlung in „Unterlichtgeschwindigkeit“

Man mag das für Spinnerei halten, aber uralte Schriften wie auch moderne Berichte von Entführungsopfern beschreiben so etwas immer wieder. In unserer modernen deutschen Medizin gibt es das „Problem der verlorenen Zeit“ ebenfalls. Nur entsteht es hier durch die Behandlung von Patienten in „Unterlichtgeschwindigkeit“. Da ist der Kranführer mit einer schlimmen Chondropathie des Kniegelenks. Seit Wochen arbeitsunfähig, denn so kann er nicht auf seinen Kran steigen. Ich gab NSAR und Physio­therapie – es hat nichts geholfen. Eigentlich müsste er schnellstmöglich zu einem Orthopäden. Nur bekommt er dort zeitnah keinen Termin. Frühestens Ende des nächs­ten Monats. Was bleibt mir anderes übrig: Ich schreibe ihn weitere vier Wochen krank. Denn ins Krankenhaus will er nicht. Verlorene Zeit.

Nun haben einige Krankenkassen sogenannte Dringlichkeitscodes entwickelt. Damit soll der Patient sofort (93480A) oder in kurzer Zeit (93480B) beim Facharzt drankommen. Das funktioniert aber kaum, weil es beim Orthopäden eigentlich immer dringlich ist. Die Menschen haben nun mal Schmerzen oder sind stark eingeschränkt. Da fast alle Ärzte den Dringlichkeitscode nutzen, ist der arme Orthopäde auch am Ende seiner Möglichkeiten. Auch seine Sprechstunde hat nur 60 Minuten.

Ein noch größeres Problem ist das bei psychisch Kranken. Oft beklagt man die gestiegene Krankheitsdauer bei Depressiven. Nur: Einen Termin beim Psychiater oder Psychotherapeuten zu bekommen, grenzt bei uns fast an ein Wunder. Es gibt lange Wartelisten. Die Patienten bleiben und bleiben arbeitsunfähig. Doch jeder Hausarzt weiß: Je länger es dauert, umso schwerer fällt der Wiedereinstieg.

Nun kommt da ein Minister des Wegs und verordnet uns „längere Arbeitszeiten“. Eine „25-Stunden-Woche“. Klingt gut. Nur wo sollen dann die Patienten hin? Wir Haus­ärzte leisten längst das Doppelte.

Nach dem Studium erst mal dorthin, wo Ärzte gebraucht werden

Ich hätte einen Gegenvorschlag. Mit dem Medizinstudium verpflichten sich alle, die danach nicht unmittelbar in die Forschung gehen, zwei Jahre ihrer Facharztausbildung dort zu machen, wo sie dringend gebraucht werden. Natürlich mit Assistenzarztgehalt plus Dienste. Von mir aus auch mit „Buschzulage“ für Eifel und Prignitz. Sicher würden einige bleiben, weil sie merken, dass es sich auch „in der Provinz“ gut lebt. Und schließlich: Nichts schult so nachhaltig wie die tägliche Praxis. Aber ich höre ihn schon, den Aufschrei ...

Neulich hatte ich einen Traum. Ich musste zum Hausbesuch in tie­fer Nacht. Auf einer einsamen Landstraße blieb plötzlich mein Auto stehen. Ein riesiges UFO in Form einer Urinflasche erschien über mir und sog mich in sein gleißendes Licht. Nach mehreren Wochen durfte ich auf die Erde zurück. Hier waren inzwischen 200 Jahre vergangen.

Was sofort auffiel: Angela Merkel war nicht mehr Kanzlerin und es gab keine Arztpraxen mehr. Wenn den Leuten das Kniegelenk wehtat, hielten sie es einfach vor einen Bildschirm, nebst ihrer Kreditkarte. Prompt begann ein 3D-Drucker zu rattern und spuckte ein neues Gelenk aus. Zusammen mit einer Einbauanleitung und dem Satz: „Respekt, wer’s selber macht!“

Dann schrillte mein Wecker und ich erwachte. Sofort nahm ich mir vor, meiner kürzlich geborenen Enkelin von einer Ausbildung zum niedergelassenen Arzt abzuraten. Das hat scheinbar keine Zukunft!

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