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Der Kompromiss verliert seine Gestaltungskraft

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Was geschah 2012 im Gesundheitswesen? Was war und wird wichtig? MT-Kolumnist Prof. Dr. Klaus Dieter Kossow fasst seine Sicht der Dinge zusammen.

Auch in diesem Jahr wurde das deutsche Gesundheitswesen auf mehreren Baustellen umgestaltet. Ein in sich schlüssiges architektonisches Konzept ist gleichwohl nicht erkennbar. Machtpolitische Interessen aller Akteure und ein nicht funktionierender Wettbewerb schaffen mehr Probleme als durch politische Interventionen und ökonomische Konzepte gelöst werden. Dafür liefert auch das Jahr 2012 wieder Beispiele.


Schon in der ersten AOK-Presseschau des Jahres (2.1.2012) finden sich bezeichnende Schlagzeilen: SPD blockiert Pflegereform, Keiner ist von der Praxisgebühr überzeugt, Wirtschaftsweiser mahnt umfassende Reform an, Bürokratie treibt Kosten, Kassenchef: Es gibt zu viele Krankenhäuser, Das neue Jahr bringt höhere Nettoeinkommen, Albtraum Demographie, Beiträge für Privatpatienten steigen wieder, Aus Mangel an Doktoren, Sollen Drogen legalisiert werden? Da wurden viele Probleme adressiert. Die Diskussionen erzeugten Schaum in den Medien. Lösungen muss man mit der Lupe suchen.

»Schaumschlägerei und nur wenige Lösungen«

Der machtpolitische Clinch der politischen Parteien, gesetzlichen Krankenkassen, privaten Krankenversicherungen, KVen, Krankenhausgesellschaften und weiteren Spitzenorganisationen erzeugt eine voluminöse permanente Diskussion ohne befriedigende Handlungsergebnisse. Der demokratische Kompromiss verliert seine Gestaltungskraft, Schiedsamts­sprüche und Gerichtsurteile haben Hochkonjunktur.


Bis zur Wahl im September 2013 wird der Gesetzgeber wohl kaum Aktionen starten. Solange die Rücklagen des Bundesversicherungsamtes und der GKV ausreichen, die erwartete Konjunkturdelle dieses Winters abzufedern, sind Vorschaltgesetze zur Kostendämpfung nicht zu erwarten. Aber beim Blick über die Legislaturperiode hinaus muss man leider feststellen, dass der warme Regen an Krankenkassenbeiträgen nicht genutzt wurde, um Investitionen in ein nachhaltigeres Versorgungssystem zu tätigen.


Einstimmig hat der Bundestag die Praxisgebühr abgeschafft. Kein Abgeordneter wollte sich dem Risiko der Bürgerkritik aussetzen. Dem Gesundheitssystem wäre mit einer differenzierteren Lösung möglicherweise mehr gedient gewesen.


Für chronisch Kranke, die regelmäßig hausärztliche Leistungen in Anspruch nehmen müssen, ist die Praxisgebühr unsinnig – zumindest wenn sie sich in die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV) einschreiben. Wer jedoch ohne Überweisung durch den Hausarzt mit seinem Luftwegsinfekt direkt zum Lungen- oder HNO-Arzt geht, der soll sich an den Mehrkosten beteiligen.

»Bagatellfälle verstopfen die Facharztpraxen«

Diese milde Steuerung würde dazu beitragen, dass die Wartezeiten beim Facharzt zur Abklärung der Diagnose nicht unnötig verlängert werden. Bagatellfälle der Routineversorgung verstopfen die Facharztpraxen und werden aus pekuniärer Indikation besonders in den Ballungsgebieten auf den Beginn jedes Quartals wiederbestellt.


Die Steuerung durch eine Selbstbeteiligung auf der Spezialversorgungsebene ist mit der freien Arztwahl vereinbar, ist besser als ein rigides Primärarztsystem und dient einer nachhaltigen Sicherung der Versorgung auf der Facharzt­ebene. Überweisungen zum Facharzt sollten künftig mit einer besseren Honorierung der Spezialisten verbunden sein. Die KBV bastelt wieder an einer EBM-Reform. Diese enthält sinnvolle Elemente auf der Grundlage positiver Erfahrungen, die mit den Direktverträgen zur HzV z.B. in Baden-Württemberg gemacht wurden. Dennoch wird das Vorhaben dort nicht viele Freunde finden. Denn Haus- wie Fachärzte werden im Direktvertragssystem durch die Gebührenordnung in Euro transparenter und fairer vergütet.


So richtig es ist, die Leistungen der Hausärzte weitgehend zu pauschalieren, so falsch ist dies bei denen der Fachärzte. Letztere sollten – insbesondere im Überweisungsfall – Einzelleistungen vergütet bekommen, damit im Patienteninteresse ein Anreiz gesetzt wird, kurzfristig zur Klärung der Diagnose mit den Hausärzten zusammenzuarbeiten. Die KBV möchte nun für jedes fachärztliche Gebiet eine Grundpauschale einführen. Dies ist allenfalls dann zu rechtfertigen, wenn die Krankenkassen diese Pauschale außerhalb des Budgets vergüten.


Das ohnehin ungelöste Problem der doppelten Facharztschiene in Krankenhaus und Praxis wird jetzt noch verschärft durch die Einführung einer spezialfachärztlichen Versorgung. Unser System erhält dadurch vier Stufen: hausärztliche, basisfachärztliche, spezialfachärztliche und Krankenhausversorgung. Moderne Dienstleistungssysteme funktionieren am besten mit zwei Stufen: einer Eingangsebene, die den Zugang zum System und die Kontinuität der Versorgung sichert, und einer Spezialversorgungsebene, die nur aktiv werden sollte, wenn ein Patientenproblem nicht mit der gewünschten Qualität, Effektivität und Wirtschaftlichkeit auf der Eingangsebene gelöst werden kann.

»Den § 73b SGB V in der alten Fassung wiederherstellen«

Eigentlich sind dies im internationalen Systemvergleich Selbstverständlichkeiten. Aber in Deutschland ist auch das Jahr 2012 ohne Annäherung an den internationalen Standard vergangen. Man hat z.B. die Chance verpasst, den § 73b SGB V, der die HzV regelt, in der Fassung der großen Koalition wiederherzustellen und so die Direktverträge unattraktiver gemacht. Was hat ein Wettbewerb zwischen Direkt- und Kollektivverträgen aber für einen Sinn, wenn man von vorneherein die Direktverträge an die Kollektivverträge bindet?


Immerhin: Beim SPD-Parteitag im Dezember 2011 wurde beschlossen, nach einem Wahlsieg der Sozialdemokraten die HzV auf der Rechtsgrundlage fortzuführen, wie sie bis zum Inkrafttreten des GKV-Finanzierungsgesetzes bestanden hatte. Damit kommt die SPD in ihrem Leitantrag zur Gesundheitspolitik der wesentlichen Forderung des Hausärzteverbandes entgegen.


Solange Hausärzte nicht für Haus­ärzte verhandeln – ganz gleich ob im Kollektivvertrag der KVen oder in Direktverträgen  – wird es nicht möglich sein, die zunehmend älter werdende Bevölkerung wirtschaftlich nach den Qualitätskriterien der evidenzbasierten Medizin zu versorgen.


Eine nachhaltige Gestaltung des Zusammenwirkens von ambulanter und stationärer sowie haus- und fachärztlicher Versorgung schiebt man jetzt schon mehr als zwei Jahrzehnte vor sich her. Ähnliche Dauerbaustellen bestehen bei der Versichertenkarte, der elektronischen Befundübermittlung und den medizinischen Datenbanken.


Ursächlich dafür ist eine Orientierung der Politiker und Krankenkassen an den Interessen gesunder Versicherter und Wähler. Diese möchten den Beitrag niedrig halten. An einer Optimierung der Versorgung sind sie erst interessiert, wenn sie krank werden. Dann sind sie aber in der Minderheit und für politische sowie Vertragsentscheidungen der Krankenkassen weniger relevant.


Patienten benötigen mehr Mitsprachemöglichkeiten – auch bei der politischen Gestaltung des Systems. Das Patientenrechtegesetz und der Patientenbeauftragte sind dafür kein Ersatz. Eine bürokratische Kontrolle der Ärzte löst nicht die Probleme, sondern bindet deren wertvolle Arbeitszeit.

»Orientierung an den Interessen der Gesunden«

Eine nachhaltige Systemreform kann auch nicht durch basisdemokratische Aktionen erfolgen. Sie scheiterten reihenweise. Ein Beispiel dafür ist die Abstimmung zum System­ausstieg in Bayern vor zwei Jahren. Und die Meinungsumfrage zur Zufriedenheit der Vertragsärzte im ersten Halbjahr war eine unzweckmäßige Vorbereitung auf Vertrags- und Schiedsamtsverhandlungen. Daraus hat man nichts gelernt; nun befragt die KBV alle 150 000 KV-Mitglieder, wie sie das System gerne hätten.


Offenbar hat man im KBV-Vorstand vergessen, dass Bundestag und Bundesrat dieses System gestalten – und zwar ausschließlich nach machtpolitischer Opportunität unter nachgeordneter Berücksichtigung von Patientenbedürfnissen. Das wird möglicherweise so lange weitergehen, wie Ertrags- und Arbeitskraft der Wirtschaft und Menschen die Mittel dafür aufbringen.


Kritische Medien sollten dies weiterhin hinterfragen, aber dabei nicht so sehr die Ärzte, Krankenhäuser, Apotheker und Pharmaindustrie in den Blick nehmen, sondern mehr als bisher die Mächtigen im System, also Politiker und Repräsentanten der Krankenkassen. Solange die Pressefreiheit der Macht auf dem Fuße folgt, geht es den Menschen gut.

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