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Der Patient ist unsere größte Organisationsfalle

Autor: Dr. Robert Oberpeilsteiner

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Keiner wartet gerne beim Arzt, auch Spielkonsolen und Wartezimmer-TV verkürzen die Warterei nicht wirklich. Aber es hilft nichts, andere Patienten sind vorher dran. Und auf sie einzugehen braucht nun mal seine Zeit, meint MT-Kolumnist Dr. Robert Oberpeilsteiner. Denn eine Praxis ist kein Fließband.

Unser Wartezimmer haben wir in einem kuscheligen Gewölbe untergebracht. Etwas dunkel ist es in dem Altbau, dafür hat man aber durch einen Rundbogen ständigen Blickkontakt zu Mathilde, meiner Sprechstundenhelferin. Gut gelaunt, strahlt sie wie eine LED-Lampe und ich spar mir Strom.


Dafür hole ich die Patienten etwas altmodisch noch persönlich ab, was wohl auch nicht mehr der geforderten Qualitätsnorm entspricht. Denn wenn eine Ordination in verschiedene Funktionsbereiche aufgegliedert ist, wird der Kranke in der Regel doch von einer Praxismitarbeiterin zügig vom Wartezimmer in einen Behandlungs- oder Funktionsraum geschleust und harrt dort der Dinge. Daher dürfte für viele Kollegen das Wartezimmer der Raum ihrer Praxis sein, dem sie eher geringere Aufmerksamkeit schenken. Vermute ich mal.

»Warten bedeutet für viele Kranke eine Stresssituation«

Sollte es aber nicht. Denn Warten bedeutet für viele Patienten eine besondere Stresssituation. Eine schmerzhafte Untersuchung ist vielleicht geplant, Befunde stehen ins Haus und alle um dich rum reden von Krankheiten, von Zuständen, die man gar nicht wissen will, von Nebenwirkungen, bei denen kein Arzt oder Apotheker mehr helfen kann.


Noch häufiger freilich ist das Wartezimmer ein Ort des Schweigens, wo jeder mit sich selbst beschäftigt ist. Nein, Warten beim Arzt ist nicht schön. Manch einem wird, wenn er auf sein Labor oder die Ergebnisse der Darmhistologie wartet, der Filmtitel „Wartezimmer zum Jenseits“ einfallen. Das macht das Ganze auch nicht lustiger.


Interessanterweise haben selbst die Werbestrategen im Gesundheitswesen immer noch keinen passenden Wohlfühlbegriff für das altmodische „Wartezimmer“ gefunden. Ich will hier den Profis keine Vorschläge machen. Aber wenn Vielflieger fünf Zentimeter mehr Beinfreiheit bekommen, dann heißt das gleich Business Class oder First Class. Ein Wartezimmer beim Arzt bleibt aber ein Wartezimmer, selbst wenn es Spielekonsolen, Kinderecke, Internet-Hot-Spot und Werbefernsehen samt Börsennachrichten vorhält. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Bloß eine Uhr sollte im Wartezimmer nicht vorhanden sein. Denn sonst wird man permanent daran erinnert, dass man ja wartet.

»Patient wie ein Bauteil am Fließband«

Dabei gibt es noch eine verschärfte Form des Wartens. Dann nämlich, wenn die übereifrige Praxismitarbeiterin den Patienten zu früh für den Auftritt ihres Chefs präpariert hat. Sozusagen in vorauseilendem Gehorsam. Mit einem Kolumnistenkollegen des Spiegel ist man kürzlich so verfahren. Im Sonographieraum einer gastroenterologischen Praxis ließ man ihn eine ganze Weile halb entkleidet frieren. Man kann verstehen, dass er nicht begeistert war.


Was macht aber ein Kolumnist, wenn er sich ärgert? Genau, er schreibt eine Kolumne darüber. Mit Recht beklagte er sich darüber, wie ein Bauteil am Fließband behandelt worden zu sein. Ausgepackt, abgelegt und auf die Bearbeitung wartend. Spiegelkolumnisten sind wortgewaltig und zucken nicht zurück vor drastischen Formulierungen. Er fühlte sich in der Nacktfalle und fragte, wieso Ärzte überhaupt Termine vergeben. Er hatte noch nie erlebt, dass einer eingehalten worden wäre.


Darauf haben jetzt die fortschrittlichen Gebietskrankenkassen reagiert. Während die Politik noch daran rumpopelt, Facharzttermine innerhalb von vier Wochen par ordre du mufti festzuschreiben, wollen einige Gebietskrankenkassen 5-Minuten-Wartezeiten in der Arztpraxis ins Gesetz. Nein, nein, das Letzte war jetzt ein Scherz! Und Sie haben es sowieso nicht geglaubt. Oder? Wie soll es denn funktionieren?


Es wäre die Quadratur des Kreises. Denn der Patient ist eben kein Werkstück, das man aus- und wieder einpacken und dann zeitgerecht weiterschicken kann. Dadurch, dass wir menschlich mit ihm umgehen (müssen), ist er unsere größte Organisationsfalle. Da hilft das beste Zeitmanagementsystem nichts. Spätestens im Sprechzimmer haben die meisten plötzlich keine Terminnot mehr und mögen es gar nicht, wenn der Doktor dauernd nervös auf die Uhr schaut, weil er vielleicht einen Kolumnisten nebenan weiß, der etwas underdressed auf ihn wartet.

»Ich hole die Patienten immer noch selbst ab«

Ein bisserl Warten hat ja auch sein Gutes. Manche gehen eh so zum Doktor wie zum Friseur. Das Wartezimmer ist für sie Kommunikationsraum. Da treffen sich alte Freunde, die sich lange nicht gesehen haben, Kollegen, denen man im Betrieb aus dem Weg gehen konnte. Wobei, so berichtet zumindest das Handelsblatt, sich auch da die Zeiten geändert haben. Mehr als jeder Fünfte hatte im Wartezimmer schon Streit mit einem anderen Patienten. Zoff im Wartezimmer. Worum geht’s da wohl? Vermutlich, wer als Nächster dran ist.


Für manche macht sich eine Praxis ohnehin verdächtig, die keine Wartezeiten hat. Ist heut’ nichts los? – wird dann scheinheilig gefragt. Übersetzt heißt das: Läuft die Praxis nicht mehr so gut? Ist der Doktor doch nicht die Koryphäe, wie es heißt?


Auch will keiner zur Marionette eines Terminplanfetischisten werden. Denn dann muss man damit rechnen, keine Hand zur Verabschiedung frei zu haben. Weil man noch mit dem Anziehen zu tun hat, während man schon hinauskomplimentiert wird.


Dennoch, wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für unsere wartenden Patienten. Zwischenfälle sind zwar nicht vorhersehbar, sonst wären es keine Zwischenfälle. Das verstehen auch die meisten Patienten. Man sollte sie aber darüber informieren und den möglichen Unmut verstehen. Und vor allem einen Satz aus dem Zeitmanagement streichen: „Was, Sie sind immer noch da?“


So geschehen kürzlich einer Patientin in der Praxis eines Kollegen, der sicher davon nichts mitbekommen hat. Die Sprechstundenhelferin hatte die schüchterne Frau über Stunden schlicht im Wartezimmer vergessen. Dabei brauchte diese doch nur ein Folgerezept. Zum Glück war sie wenigstens warm angezogen. Sie hatte den Mantel anbehalten. Es sollte ja eigentlich nicht lange dauern.

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