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Einblicke in die Nazi-KV: KBV öffnet Archive für die Forschung ihrer Vorgängerorganisation

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Fremdenfeindlichkeit – Ärzteschaft und Gesellschaft müssen dagegenhalten. Rechts im Bild: Prof. Dr. Samuel Salzborn, Antisemitismusforscher.
Fremdenfeindlichkeit – Ärzteschaft und Gesellschaft müssen dagegenhalten. Rechts im Bild: Prof. Dr. Samuel Salzborn, Antisemitismusforscher. © iStock.com/Nikada, Marta Krajinovic /TU Berlin
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Die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) war die Vorgängerorganisation der heutigen Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Ihre Rolle in der Zeit des National­sozialismus 1933 bis 1945 ist jetzt Teil eines Forschungsprojekts am Zentrum für Antisemitismus­forschung der Technischen Univer­sität Berlin.

Unter Leitung des Politikwissenschaftlers Professor Dr. Samuel Salzborn wird im Rahmen des zwei Jahre laufenden und von der KBV finanzierten Projekts unveröffentlichtes und bisher nicht zugängliches Quellenmaterial gesichtet und ausgewertet. Die Wissenschaftler rechnen damit, dass „in erheblichem Maße neue Erkenntnisse über die Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus erlangt werden können, etwa was die Formulierung von rassistischen und antisemitischen Kategorien auf pseudowissenschaftlicher Grundlage angeht – oder die Rolle der Kassenärztlichen Vereinigung beim Berufsausschluss jüdischer Kolleginnen und Kollegen“.

Ausschluss jüdischer und politisch missliebiger Ärzte

Die KVD enstand als Zusammenschluss der 1932 vom Hartmannbund gegründeten Kassenärztlichen Vereinigungen. Nach der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wurde sie dem Reichsarbeitsministerium unterstellt, welches auch das Reichsarzt­register und die Kassenzulassungen führte. Zur Forschung gehört deshalb Aufklärung über folgende Fragen:

  • Anteil der KVD am Umbau des Krankenversicherungssystems
  • (Selbst-)Gleichschaltung in den Jahren 1933ff.
  • Organisationsgeschichte: Initiativen, Korrespondenzen, Vernetzungen, Vordenkertum, Konflikte etc.
  • Ausschlüsse jüdischer und politisch missliebiger Ärzte
  • Zuständigkeiten und Machtzuwachs (Betriebsärzte, Zwangsarbeiter-Betreuung, Sterilisations- und Euthanasie-Maßnahmen, Kriegsdienst der Ärzteschaft)
  • Berufsethos / Selbstverständnis und (neue) Aufgaben / Betätigungsfelder in der Diktatur
  • Karriereverläufe und Denkmus­ter: Übergänge in die Bundesrepublik

Die KBV-Vertreterversammlung hatte im vergangenen Jahr den Beschluss gefasst, den verbliebenen Aktenbestand der ehemaligen Archive der KVD wissenschaftlich zu erfassen.

Dazu erklärte der KBV-Vorsitzende Dr. Andreas Gassen: „Für die Vertreterversammlung der KBV und für uns als Vorstand ist die wissenschaftliche Aufarbeitung der KVD-Vergangenheit ein elementarer Teil unseres beruflichen Selbstverständnisses.“ Dazu gehöre auch, im Hier und Jetzt gegen jede Form von Diskriminierung von Kollegen oder Patienten vorzugehen.

Wissenschaftler sollen Ende 2019 ein Zwischenfazit ziehen

„Wie schnell allgemeine Werte aufgegeben werden, sehen wir angesichts der aktuellen fremdenfeindlichen und antisemitischen Vorfälle in Deutschland. Hier müssen wir dagegenhalten – als Ärzteschaft und als Gesellschaft insgesamt“, so Dr. Gassen.

Die Rolle der deutschen Ärzteschaft ist seit Langem Thema der Forschung. Neu ist die Bewertung der konkreten Rolle der KVD. Im Dezember 2019 soll es ein Zwischenfazit geben. Geplant ist, die Ergebnisse und Schlussfolgerungen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, z.B. durch Online-Ausstellungen oder die Dokumenten-Edition.

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