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Extrem adipöse Patienten: XXXL-Herausforderungen

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Der XXL-Rollstuhl, der für den besonderen Bedarf gedacht ist. Der XXL-Rollstuhl, der für den besonderen Bedarf gedacht ist. © 2018 Helios Kliniken GmbH
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Mit fast 600 Kilogramm Gewicht war Juan Pedro Franco aus Mexiko der dickste Mann der Welt – jetzt ist er am Abspecken. Ob in Deutschland jemals jemand so massig wird, wer weiß. Schwergewichtige stellen allerdings bereits heute Rettungskräfte, Kliniken, Medizintechnikhersteller und auch Bestatter vor Herausforderungen.

Ein User schrieb 2007 im Forum für Dicke (www.deutschlands-dicke-seiten.de), der Aufenthalt im Krankenhaus sei sehr unangenehm gewesen – wegen der dünnen Ma­tratze und der Folge von Rücken- und Po-Schmerzen. „Das nicht passende OP-Hemd ... war irgendwie schon peinlich.“ Der Chirurg habe dann warme Decken umgelegt.

Starke Zunahme

Das Weißbuch Adipositas des IGES-Instituts konstatiert für die Jahre 1999 bis 2013 bezüglich morbider Adipositas (Grad III) bei Männern eine Zunahme von 144 % und für Frauen von etwa 102 %. Bei einer unveränderten jährlichen Gewichtszunahme würde der Anteil adipöser Personen im Alter von über 50 bis zum Jahr 2030 um 80 % ansteigen, hieß es im Barmer-Report Krankenhaus 2016.

Heute sind große Häuser auf stark Übergewichtige vorbereitet. Das betrifft u.a. die Behandlungen in speziell eingerichteten Adipositas-Abteilungen sowie die Akutversorgung in der Notaufnahme. „Wir halten für adipöse Patienten zwei Schwerlast-OP-Säulen inklusive vier Schwerlasttischplatten vor, die bis 320 Kilogramm belastbar sind; im Bedarfsfall werden Bett und Rollstuhl angemietet“, berichtet Anke Schleenvoigt, Kommissarische Leiterin Unternehmenskommunikation am Universitätsklinikum Jena. Medizintechnikhersteller reagieren auf die XXL-Größen. So werden z.B. OP-Tische für bis zu 544 Kilo Belastung und mit einer Liegebreite bis zu 80 Zentimetern angeboten.

Das Gewicht der Patienten ist nicht immer das Problem

Feuerwehren sind mittlerweile ebenfalls mit Spezialfahrzeugen ausgerüstet, damit die Patienten nicht mehr – wie mehrfach geschehen – auf der Ladefläche von Lkw oder per Radlader (2013 in Hamburg) transportiert werden müssen. Die Berufsfeuerwehr in Kassel hat z.B. einen Rettungswagen (RTW) für Patienten mit bis zu 750 Kilo Gewicht angeschafft. In regulären RTW sind 140 bis 180 Kilo schwere Menschen transportierbar. Die Berliner Feuerwehr hat im Stadtzentrum ein Spezialfahrzeug stationiert. Es stehen Tragen für bis zu 1000 Kilo bzw. 750 Kilo Gewicht zur Verfügung. Allerdings sind auch die meisten Berliner RTW inzwischen bis 250 Kilo belastbar. „Es ist aber nicht immer das Gewicht des Patienten das Problem, sondern die Maße“, erklärt Brand­oberamtsrat Dr. Rolf Erbe. Patienten brächten zum Teil „Körpermaße mit, die einen Transport durchs Treppenhaus unmöglich machen, vor allem, wenn auch noch zehn Einsatzkräfte mit zupacken müssen“. Ein solcher Patiententransport stand 2014 an. Berliner Medien berichteten ausführlich. Um eine Patientin mit 320 Kilo Gewicht und 120 Zentimeter Breite ins Freie bringen zu können, musste die Feuerwehr ein Fenster entfernen und die Wand einreißen. Laut Dr. Erbe, zugleich Techniker und Ingenieur, ist bei Patienten mit mehr als 150 Kilo Körpergewicht auch eine Einsatzleiter mit zwei zusätzlichen Kräften vor Ort und ggf. der feuerwehrtechnische Einsatzdienst, die Höhenrettung und ein Kran. Beim Notruf, rät er, sollte darauf hingewiesen werden, dass es sich um einen Patienten mit starkem Übergewicht handelt und eventuell Transportprobleme bestehen. Im Notfall komme es allerdings auf schnelle medizinische Hilfe an und nicht auf einen schnellen Transport, der bei Patienten mit 200 bis 300 Kilo Gewicht sowieso kaum möglich sei, erklärt Dr. Erbe. In welchem Fahrzeug der oder die Kranke in welche Klinik gebracht wird, hängt letztlich von der konkreten Situation ab. Nicht alle Kliniken seien auf extrem übergewichtige Patienten vorbereitet. Manchmal helfe die Feuerwehr auch, ein Spezialbett in eine Klinik zu transportieren.

Leichenkühlschränke mit extragroßen Fächern

Stark Übergewichtige bringen auch nach ihrem Tod Herausforderungen mit sich, z.B. in der Rechtsmedizin. Hier gibt es inzwischen Leichenkühlschränke mit extragroßen Fächern. Diese würden im Institut für Rechtsmedizin der Berliner Charité nicht benötigt, sagt dessen Leiter Professor Dr. Michael Tsokos. Das Institut verfüge über einen Kühlkeller, in dem die Leichen auf Bahren (Molen) gelagert werden. Problematisch sei allerdings die Obduktion stark adipöser Menschen für kleinere Obduzierende. Bei deutlich mehr Leibeshöhe eines Toten müssten die Mitarbeiter trotz abgesenktem Sektionstisch manchmal auf einen Tritt steigen, um korrekt arbeiten zu können.

Krematorien nur zum Teil auf übergroße Särge vorbereitet

„Situationen mit übergewichtigen Verstorbenen sind gar nicht mal so selten“, sagt Melissa Bachert vom Verband unabhängiger Bestatter. Die Zahl jener, die einen größeren Sarg und mehr Personal zur Abholung benötigten, sei peu à peu gestiegen. Gelegentlich müsse wegen der Aufbewahrung der Leichen bei Bestattern mit Großraumkühlungen angefragt werden. Bedarf bestehe zudem an breiteren Särgen. Infolgedessen müssten manchmal auch weiter entfernte Krematorien angefahren werden, denn nur wenige Anlagen hätten die Möglichkeit, Särge von einem Meter Breite oder mehr einäschern zu können. „Möchte die Familie den Verstorbenen klassisch in einem Sarg beisetzen, muss natürlich ein breiteres Grab ausgehoben werden“, sagt die Bestatterin. Anstelle der üblichen vier oder sechs Sargträger bräuchte man dann – auch aus Arbeitsschutzgründen – bis zu zwölf Personen, die den Sarg sicher und würdevoll in das Grab ablassen.

Warnung vor der „Adipositas-Tsunami-Welle“

Professor Dr. Jürgen Ordemann ist Leiter des Zentrums für Adipositas und Metabolische Medizin im Helios Klinikum Berlin-Buch sowie Mitglied des Beirats der Deutschen Adipositas Gesellschaft. Selbstverständlich könne er über XXL-Stühle, Schwerlastbetten und OP-Tische für massiv adipöse Patienten referieren, erklärte er gegenüber Medical Tribune. Aber eigentlich gehe es schon längst nicht mehr nur darum. Das gesamte Gesundheitssystem müsse sich auf die Adipositas-Epidemie einstellen. Natürlich stehe die Prävention der Adipositaserkrankung an erster Stelle, sagte der Chirurg. Wenn aber der Patient erst einmal krankhaft adipös sei, müssten ganz neue Strategien bereitstehen, um diesen Patienten zu helfen. „Wir brauchen jetzt gesundheits- und gesellschaftspolitische Strategien, die den betroffenen Patienten eine adäquate und erfolgreiche Therapie anbieten. Ansonsten nimmt die Tsunami-Welle ihren Lauf.“
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