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Für die Allgemeinmedizin muss man geboren sein

Autor: Dr. Frauke Gehring

Dr. Gehring ist sich sicher: Sie hat den schönsten und abwechslungsreichsten Beruf der Welt. (Agenturfoto) Dr. Gehring ist sich sicher: Sie hat den schönsten und abwechslungsreichsten Beruf der Welt. (Agenturfoto) © iStock/Cecilie_Arcurs; MT
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Unsere Kolumnistin ist während der Arbeit ständig auf Trab. Und doch würde sie nirgendwo anders arbeiten wollen. Über die Höhen und Tiefen des Arztberufes.

Nun geht sie doch, unsere Weiterbildungsassistentin. Aus der Akut-Reha kommend und zunächst dem Reiz der Allgemeinmedizin erlegen, möchte sie wieder zurück in die Klinik. Wie konnte das passieren? Über Monate war sie hin- und hergerissen zwischen der Freude an unserer abwechslungsreichen Arbeit und den ruhigen Bahnen der Rehabilitationsmedizin, zwischen der Arbeit in unserem liebenswerten Team und der in einer neuen und daher noch unbekannten Abteilung, bei der man aber nicht so viel einsam hinter verschlossener Tür entscheiden muss. Wir haben viele Gespräche geführt über die fachlichen Herausforderungen eines riesigen Aufgabengebietes, die Geschwindigkeit, in der Patienten zu Stoßzeiten versorgt werden müssen, die fehlende Zeit für ein Pläuschchen zwischendurch: All das war für die Kollegin dann doch nicht ganz das Richtige.

Zur Allgemeinärztin muss man anscheinend geboren sein, aber viel kann man auch lernen. Beflügelt von der Spannung unseres Faches muss man auch mal Gas geben, wenn es eng wird. Im Kampf gegen eine Pandemie auf dem Zahnfleisch zwischen Infektions- und Impfsprechstunde hin- und hereilen, ohne die Patientinnen und Patienten, die mit ­COVID überhaupt nichts zu tun haben, zu vernachlässigen. Man kann auf dem Fußboden reanimieren und Weinende trösten, sich den Kopf über kniffelige Diagnosen zerbrechen und sich über hochnäsige Teilgebietskollegen ärgern, die keine Briefe schreiben und uns für Treppenterrier halten, die mit einem Hebammenköfferchen übers Land eilen. Man kann den Kaffee auf dem Schreibtisch mal kalt werden lassen, wenn es zeitlich eng wird. Aber man weiß als geborene Allgemeinärztin immer, dass man den schönsten und abwechslungsreichsten Beruf der Welt hat!

Wenn wir Allgemeinärzte stringent arbeiten, haben wir auch mal Zeit für einen Schnack im Labor oder ein Privatgespräch mit einer Patientin. Natürlich haben wir die Zeitung nicht gelesen, wenn wir abends nach Hause kommen, und wir können während der Arbeit weder twittern noch durch Facebook scrollen. Aber dafür arbeiten wir insgesamt oft etwas kürzer als andere an ihrem Arbeitsplatz. Wir können unsere Dienste abgeben und uns nicht nur einen freien Mittwoch, sondern auch einen freien Freitag­nachmittag gönnen.

Und so brauchen wir kein Mitleid, wenn wir in unserer „Frei“zeit mal ein paar Briefe diktieren oder Rechnungen überweisen müssen. Wir haben auch immer Zeit für ein paar Frotzeleien mit dem Personal oder ein paar persönliche Worte mehr für diejenigen unserer Patientinnen und Patienten, die das gerade brauchen.

Ja, die Coronapandemie hat auch uns viel Nerven und Zeit gekostet. Das ganze Personal rennt treppauf und treppab zum Anbau, in dem wir fraglich Infizierte untersuchen und abstreichen, und wieder zurück. Wir organisieren die Impfungen, erklären und lassen uns immer wieder ungerechtfertigt anmaulen, wenn jemand meint, dass er früher als alle anderen drankommen müsste. Wir verdienen weniger, weil die paar Kröten für Impfung und Abstrich den Aufwand nicht wettmachen und weil immer noch manche Patienten Vorsorgeuntersuchungen auslassen, die ebenso wie geschwänzte DMP-Termine eine pekuniäre Lücke reißen.

Unser aller Nervenkostüme sind dünner geworden und ich würde gerne mal von etwas anderem als von „irgendetwas mit Corona“ träumen. Aber ich würde nirgendwo anders als in unserer Praxis arbeiten wollen, weil es nirgends ein besseres, netteres Team gibt, ich in meinem Traumberuf arbeite und Corona irgendwann überwunden sein wird.

Ich bin zur Allgemeinärztin geboren, unsere scheidende Kollegin ist es anscheinend nicht. Schade, denn sie ist herzlich, kompetent und klug, und unser Team mochte sie sehr. Wir können nur hoffen, dass wir zum Sommer jemanden finden, der uns unterstützt – ob schon fertig oder in der Weiterbildung spielt keine Rolle. Die Kollegin geht von unseren guten Wünschen begleitet. Vielleicht denkt sie doch mal an die schöne Zeit bei uns zurück, als „Das ist ja der Wahnsinn!“ ihr täglicher Kommentar zu all den Höhen und Tiefen unseres faszinierenden Berufes war. Möge sie in der Rehaklinik glücklich werden!

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