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Gerecht, nachhaltig und effizient ohne PKV?

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

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Bertelsmann-Stiftung und Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) raten der künftigen Regierungsmehrheit, eine Reform der Krankenversicherung anzupacken, die für „mehr Versorgungsgerechtigkeit“ sorgt. Ihre Empfehlung läuft auf ein einheitliches Honorarsystem für die Ärzte und eine „Integrierte Krankenversicherung“ von GKV und PKV hinaus.

Mut zu großen Reformschritten haben Politiker nur in Krisenzeiten. Zumal dann der Widerstand der Interessengruppen, die Verluste hinnehmen müssen, geringer ist. Das erklärte Ökonom und Politikberater Professor Dr. Bert Rürup auf der Tagung „Gerecht, nachhaltig, effizient – Perspektiven für eine Reform der Krankenversicherung“. Demnach dürfte sich im deutschen Gesundheitswesen, solange die Konjunktur mitspielt, nicht viel bewegen.

Rot-Grün will im Jubel-Fall sofort loslegen

Cornelia Prüfer-Storcks, SPD-Gesundheitssenatorin in Hamburg, verspricht dennoch, dass im Fall eines rot-grünen Bundestagswahlsiegs ab dem 23. September die Arbeiten für eine Bürgerversicherung beginnen werden. Die Zeit dafür ist reif, meinen auch die Verbraucherschützer und der „Think Tank“ Bertelsmann-Stiftung. Ihr Plädoyer für eine „Integrierte Krankenversicherung“ und ihre Reformvorschläge untermauern sie mit repräsentativen Bevölkerungsbefragungen und wissenschaftlichen Berechnungen.
 

 


Gerd Billen, Vorstand des vzbv, und Aart De Geus, Vorstandschef der Bertelsmann-Stiftung und ehemaliger holländischer Arbeits- und Sozialminister, sind sich in ihrer Analyse einig: Es ist ungerecht, dass PKV-Kunden bei der Terminvergabe gegenüber gesetzlich Versicherten bevorzugt werden und sich Ärzte bevorzugt in Regionen mit vielen Privatpatienten niederlassen, während es in Regionen mit wenigen Privatpatienten an Ärzten mangelt. Sie befürworten deshalb ein einheitliches Abrechnungssystem, das solche Fehlanreize vermeiden würde.


Zwar gibt es keine wissenschaftlichen Belege, dass die Terminbenachteiligung zu gravierenden medizinischen Problemen für gesetzlich Krankenversicherte führt, betont der Gesundheitsökonom Professor Dr. Jürgen Wasem von der Uni Duisburg-Essen. Er hält es auch für illusorisch, dass mit einem Wegfall des dualen Systems ein Ende der Zwei-Klassen-Medizin verbunden sein wird. Allerdings will es ihm „nicht einleuchten“, warum es freiwillig Versicherten erlaubt ist, sich aus dem solidarischen GKV-System zu verabschieden, damit sie für einen niedrigeren Beitrag einen besseren Zugang zu Leistungen erhalten. Ein solches System würde heute niemand mehr am grünen Tisch planen.


Der Systemwechsel soll die Ärzteschaft aber nicht verärgern. Prüfer-Storcks betont, dass damit eine Kompensation verbunden sein muss. Ihr schwebt eine Größenordnung von 1,6 Mrd. Euro vor, wenn sich z.B. innerhalb eines Jahres vor allem multimorbide und ältere PKV-Versicherte für eine Rückkehr in die GKV entscheiden. Auf Prof. Wasems Hinweis, dass zu klären sein wird, ob die Kompensation unterversorgten Regionen oder den Ärzten mit hohem PKV-Anteil („am Starnberger See“) zugute kommen soll, sagt die Politikerin „sowohl als auch“.

Unterm Strich müssen die Bürger mehr berappen

Dass es mit einer Integrierten Krankenversicherung billiger wird, glaubt sowieso niemand. Verbraucherschützer Billen geht davon aus, dass die Bürger über Beiträge, Zusatzbeiträge oder Steuern mehr als heute berappen müssen, damit sie künftig genauso behandelt werden wie die integrierten PKV-Kunden.


Als Anhaltspunkt dienen ihm Berechnungen, die das Berliner IGES-Institut gemacht hat. Es vergleicht drei Szenarien: Ein Drittel der Finanzierung erfolgt durch Zusatzbeiträge. Oder ein Drittel stammt aus Steuermitteln. Oder alles wird durch Beiträge finanziert, die – mit oder ohne Beitragsbemessungsgrenze – auf allen Einkommen fußen. Dabei kalkuliert das IGES, dass sich der Geldbedarf von 173,5 Mrd. Euro (GKV 2010) auf 202,6 Mrd. Euro erhöht. Pro Versicherten wären das dann 2602 statt 2515 Euro.


Zur Illustration des Steuermittelbedarfs tut das IGES so, also würde dafür ein „Gesundheits-Soli“ auf die Einkommensteuerschuld eingeführt. Im Fall der Drittel-Zusatzbeitragslösung würde sich dieser auf 12,9 % belaufen, bei der Drittel-Steuerzuschusslösung wären es sogar 24,6 %!


Je nach Szenario würde z.B. der Anteil des Arbeitsentgelts am Finanzaufkommen von 63,8 % auf bis zu 51,3 % sinken. Dagegen würden die Anteile der Selbstständigeneinkommen von 3,4 auf 9,4 % zulegen und die der Pensionen von 1,1 auf 7,4 %. Beim Drittel-Steuerzuschussmodell müsste ein Haushalt mit einem Jahresnettoeinkommen ab 78 000 Euro eine Mehrbelastung von 10 % hinnehmen. Die Gesamtbelastung von Arbeitnehmern mit Steuern und Abgaben beliefe sich in der Spitze auf 35 bis über 40 % des Bruttoeinkommens. Das sind Zahlen, die Prüfer-Storcks nicht auf das SPD-Bürgerversicherungsmodell übertragen wissen möchte.

Solidarität ist von der Mehrheit explizit erwünscht

Schließlich ist es der Gesundheitspolitik in den letzten Jahrzehnten auch erfolgreich gelungen, durch Kostendämpfungsgesetze die Ausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt nahezu konstant zu halten. Dass sich auch die Mehrheit der Bevölkerung eine gerechtere Versorgung wünscht und einer Politik, die für einen Systemwechsel eintritt, gewogen ist, liest Dr. Jan Böcken von der Bertelsmann-Stiftung aus repräsentativen Umfragen von Ende 2012 heraus.


Die Zustimmung zum solidarischen System sei nach wie vor hoch. Dass Besserverdienende, Selbstständige und Beamte in die GKV einbezogen werden, halten 84 % für (eher / überaus) wichtig – und 69 %, dass die GKV mehr staatliche Zuschüsse erhält (durch Einsparungen in anderen Bereichen).

Überzogene Hoffnungen auf eine klassenlose Medizin?

Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit der Gesundheitsversorgung halten sich im Land die Waage. Allerdings werden bei Aspekten, die schon heute von der Mehrheit als nicht mehr gut angesehen werden (Zeit fürs Arztgespräch, Wartezeit), weitere Verschlechterungen erwartet.


Prof. Rürup warnt davor, die Bürgerversicherung zu einer Projektionsfläche für Hoffnungen auf eine klassenlose oder effizientere medizinische Versorgung zu machen:  „Reiche werden sich immer eine bessere Medizin leisten können – es sei denn, Sie verbieten das Reisen.“ Die Ausweitung des Versichertenkreises und die Einbeziehung weiterer Einkünfte werde daran nichts ändern.


Und was passiert, wenn die Bundestagswahl eine Große Koalition zur Folge hat? Auch in dem Fall hofft Ex-Sozialminister De Geus auf eine Integrierte Krankenversicherung. „Eine Große Koalition kann 0:0 oder 3:3 spielen“, sagt er. Ein 3:3, bei dem sich jede Seite über Treffer freut, sei besser.
 

Reformschritte zum „Integrierten Krankenversicherungsmarkt“



Bertelsmann-Stiftung und Verbraucherschützer definieren folgende Reformschritte für den Übergang der PKV in den „Integrierten Krankenversicherungsmarkt“: 


• Aufkommensneutrale Angleichung der ärztlichen Vergütungssysteme von GKV und PKV. Fehlanreize bei der Leistungserbringung (diagnostische Überversorgung von privat Versicherten), beim Zugang von Leistungen (Wartezeit) und bei der Wahl des Niederlassungsortes entfallen. 


• Einrichtung eines beihilfefähigen Beamtentarifs und Absenkung des Mindestbeitrags für freiwillig ver­sicherte Selbstständige.


• Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze für Neuversicherte und Einführung der Versicherungspflicht für Selbstständige und Beamte. Kein Wechsel mehr in die PKV möglich. 


• Eintritt der PKV in den Integrierten Krankenversicherungsmarkt durch ein Tarifangebot, bei dem Versicherte ihren Beitrag nach Einkommen und nicht nach individuellem Risiko zahlen; der Leistungsrahmen entspricht dem der GKV. 


• Wechselrecht der PKV-Kunden in die Integrierte Krankenversicherung, Ausbau der Portabilität der Alterungsrückstellungen. 


• Regelungen für in der privaten Krankenvollversicherung verbliebene Versicherte (reduzierte Kohorten erschweren die notwendige Risikomischung): verbesserte Bedingungen für Fusionen plus Auffanggesellschaft für Unternehmen, die nicht mehr leistungsfähig sind.


PKV-Verbandsdirektor Dr. Volker Leienbach kommentierte die Vorschläge so: „Das Planspiel ist eine Fiktion, in der Versicherte, Ärzte, Arbeitnehmer und Beamte munter hin und her geschoben werden. Ohne Begründung und sicher nicht zu ihrem Besten ... Unser Gesundheitswesen ist zu kostbar, um es mit grundlosen Radikaloperationen zu gefährden.“


Quelle: Tagung von Bertelsmann-Stiftung und Verbraucherzentrale Bundesverband, Berlin, 2013

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