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Im Land der Meckerer

Autor: Dr. Cornelia Tauber-Bachmann

Warum immer so grimmig? Es gibt auch genug Grund zur Freude – ein stabiles Gesundheitssystem und Impfstoff zum Beispiel. Warum immer so grimmig? Es gibt auch genug Grund zur Freude – ein stabiles Gesundheitssystem und Impfstoff zum Beispiel. © pathdoc – stock.adobe.de
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Jammern auf hohem Niveau – des Deutschen liebste Beschäftigung. Dabei könnten wir mit Blick auf die Pandemie zumindest etwas Dankbarkeit für ein leistungsfähiges Gesundheitssystem und ein Impfstoffentwicklungswunder empfinden.

Es ist schon einige Jahre her: Auf einer privaten Feier trafen wir einen jungen Mann aus Brasilien, der frisch in Deutschland eingebürgert war. Erst am Tag zuvor hatte er seine Urkunde erhalten. Er war sehr fröhlich und feierte vergnügt. Was er denn nun vorhabe mit seiner neuen Staatsbürgerschaft, fragten wir ihn. Grinsend antwortete er, dass er sich nun mal eine Woche wie ein typischer Deutscher verhalten wolle. Auf unser Nachfragen, wie das denn gehe, meinte er: „Ich werde mich jeden Tag über etwas beschweren!“

Da waren wir erst einmal perplex, aber dann kam die Einsicht: Tja, so sind wir wohl und werden so auch von außen gesehen. Ein Volk der Meckerer, der chronisch Unzufriedenen, obwohl es uns in den Augen anderer sehr gut geht. In jeder Hinsicht.

Obwohl diese Begebenheit schon einige Jahre her ist, fiel mir in den letzten Wochen immer wieder mal der junge Mann ein. Warum nur? Es geht uns wirklich gut: Wir haben ein funktionierendes Gesundheitssystem mit einer guten Versorgung der gesamten Bevölkerung. 

Wir leben in einem Land, in dem nicht alle Intensivbetten wegge­spart wurden, in dem ausreichend Intensivbetten auch für einen höheren Bedarf vorhanden sind. Wir haben ein Gesundheitssystem, in dem ganz flexibel räumliche und hierarchische Strukturen geändert werden, um den Anforderungen einer Pandemie gerecht zu werden. Ein System, in dem niedergelassene Ärzte und Ärztinnen auch „über den Anschlag hinaus“ Patienten behandeln und sich weiterbilden, um den Anforderungen gerecht zu werden. Ein System, in dem innerhalb kurzer Zeit ein ganzes Versorgungsnetz aufgebaut werden kann.

Aber was lesen wir in der Zeitung, was sehen und hören wir in den Nachrichten? Es gibt zu wenig Abstrichstellen, zu wenig Intensivbetten, zu wenig Facharzttermine, zu lange Wartezeiten auf eine OP und/oder eine viel zu kurze und zu wenig umfangreiche physiotherapeutische Behandlung, zu lange Wartezeiten auf einen Impftermin. Ich will ja gar nicht abstreiten, dass einige Dinge korrektur- und verbesserungsbedürftig sind. Darüber ist in jedem Fall zu diskutieren, ggf. sind Studien zu erstellen, um – untermauert mit harten Zahlen und Daten – Neuerungen einzuführen. Aber irgendwie gehen mir das Gemecker und das ständige Kritisieren auf die Nerven.

Nun haben wir einen wirksamen Impfstoff, der eine schweren Verlauf von COVID-19 in den meisten Fällen verhindern kann. Und ich gebe zu: Ein bisschen stolz bin ich schon, dass u.a. deutsche Wissenschaftler und die Pharmaindustrie in nicht einmal zehn Monaten Entwicklungszeit einen Impfstoff in so großen Mengen herstellen konnten. Dass auch viele deutsche Firmen an der Logistik beteiligt sind, freut mich. Und dennoch wird geklagt: Zu wenig Impfstoff, es dauere alles zu lange, die Qualitätskriterien würden nicht eingehalten, die Impfung sei viel zu gefährlich. 

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sehe es auch durchaus kritisch, dass man, um wieder möglichst schnell zum normalen Leben zurückkehren zu können, die Studienphasen teleskopartig verkürzt hat. Dass wir manche Eigenschaften der Impfung noch nicht kennen, ist deshalb völlig klar. Und ich bin auch keine Befürworterin einer Impfpflicht. Weitere begleitende Studien müssen unser Wissen erweitern. Da müssen wir am Ball bleiben. Aber ein bisschen zufriedener könnten wir schon sein – oder?

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