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Internet-Sucht trifft auch die Erfolgreichen

Autor: Dr. Cornelia Tauber-Bachmann

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Selbstständig, beruflich erfolgreich, stets gut gekleidet und bei Mitarbeitern beliebt – auch so kann eine Internetsüchtige aussehen. Keiner käme auf die Idee, dass diese Frau vom „Daddeln“ nicht loskommt. Aber sie führt tapfer ihren Kampf gegen den Absturz. MT-Kolumnistin Dr. Cornelia Tauber-Bachmann zollt ihrer Patientin Respekt.

Kürzlich kam eine Patientin wegen eines Infekts der oberen Atemwege in die Praxis. Ich kenne die Frau schon lange – das verrät sogar schon ihre Karteikarte, denn die ist mit einem Berg von Aufklebern „gebirgig“ geworden. Ja, zugegeben, ich gehöre zu den altmodischen Ärztinnen, die noch eine Karteikarte führen und dadurch bei Absturz des Computersystems nicht hilflos, sozusagen arbeitsunfähig die Praxis schließen müssen.


Doch der Blick auf die Karte machte mich diesmal stutzig: Nur die Telefonnummer war immer wieder überklebt worden, die Adresse lediglich ein einziges Mal. Merkwürdig, sollte ich die Frau danach fragen? Oder machte ich meine Praxis dann zur Zweigstelle eines Kommissariats? Beim Blutdruckmessen fragte ich doch ganz beiläufig nach.

»Ständig wechselnde 
Telefonnummern weckten Verdacht«

Die Patientin erklärte mir, dass es sich hierbei um mobile Telefonnummern handele, sie habe immer Kartenhandys, deren Nummern sich häufig aus technischen Gründen änderten. Außerdem verlege oder verliere sie ständig ihre Mobiltelefone. Und dann sei sowieso eine neue Nummer fällig.


Wie gesagt, ich kenne die Patientin und ihre Familie schon lange und weiß, dass die jüngste Tochter wegen eines ADHS in Behandlung ist. Könnte die Mutter auch davon betroffen sein? Aber nein! Sie ist doch eine selbstständige, beruflich  erfolgreiche Frau, hat Personalverantwortung und Führungsaufgaben. Sie muss sich am Arbeitsplatz extrem konzentrieren. Bei ihren MitarbeiterInnen ist sie beliebt und wird in  Konfliktsituationen um Rat gefragt. Klingt alles nicht gerade nach ADHS!


Einige Tage später, als es ihr schon wieder besser ging, konnte ich meine Neugier doch nicht weiter zügeln: „Warum nehmen Sie eigentlich immer Handys mit einem Prepaid- Kartenvertag? Sie könnten sich doch einen Dauervertrag mit einer stets gleichbleibenden Telefonnummer leisten. Es wäre so viel einfacher für Sie und Ihre Bekannten und für uns, dachte ich im Geheimen. Denn wir müssten dann nicht ständig neue Telefonnummern notieren – und die Karteikarte nicht unnötig mit Klebezetteln anwachsen lassen.


Da wurde die Patientin ganz leise, ich musste richtig meine Ohren spitzen, um sie überhaupt zu verstehen: „Ich kann nicht aufhören zu „daddeln“, wenn ich einmal damit angefangen habe. ....Ich schicke tagtäglich vielen Leuten SMS und telefoniere. Aber ich surfe auch ständig im Internet und spiele Computerspiele. Ich lade mir fast täglich ein neues runter, es gibt ja so viele davon.


Meine vorsichtige Frage, ob „daddeln“ denn auch Zockerspiele beinhalte, wehrte sie erschrocken ab. „Nein, sowas würde ich nie anfangen!“ Aber wenn sie so richtig am Spielen sei, würde sie alles um sich herum vergessen. „Ich verpasse fast die Haltestellen, steige gehetzt aus dem Zug, verliere das Handy. Oft fällt es mir auch herunter, weil ich beim Internet-Surfen eingeschlafen bin“, erzählte die Frau weiter. „Bei Autofahrten lege ich es oft in meinen Schoß, spiele weiter, wenn die Ampel rot wird, und beim Aussteigen landet es sonstwo.“

»Mit Verzicht auf Flatrate den Absturz verhindert«

Ich war verblüfft. Hätte ich doch bei dieser so gut gekleideten Frau zwischen 40 und 50 allenfalls auf eine Kauf-Sucht getippt – keinesfalls eine Internet-Sucht auch nur erwogen. „Manchmal,“ sprudelte es nun aus ihr heraus, „komme ich nachts kaum zum Schlafen deswegen. Wenn ich im Internet unterwegs bin, kann ich einfach nicht mehr aufhören. Und bei einem unbegrenzten Vertrag könnte ich mich gar nicht mehr kontrollieren!“ Doch vor dieser Frau habe ich einen Riesen-Respekt. Sie kennt ihre Schwäche und bekämpft sie konsequent, wenn auch kostenintensiv.


Vielleicht würde diese Patientin  mit einer unbegrenzten Flatrate wirklich in die komplette Internet-Abhängigkeit abrutschen. Mit allen Konsequenzen für ihren Beruf und ihre Familie. Und gleichzeitig zeigt sie mit dieser Verhaltensweise ihrer Tochter, die ja ein ADHS hat und extrem gegen Ablenkung durch Computer und Medien zu kämpfen hat, dass frau auch mit Intelligenz und der richtigen Strategie ihre eigene Sucht-Tendenz über lange Strecken im Griff behalten kann.


Alle Prospekte, in denen sich Kliniken anbieten, nicht stoffgebundene Süchte zu therapieren, kann ich also erst mal auf die Seite legen. Oder?


Mein Internet geht gerade nicht. Ich merke, wie ich etwas unruhig werde ....

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