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KBV-Vorstand: Pandemie ist eine ungeheure Herausforderung für Politik und Ärzte

Gesundheitspolitik , Interview Autor: Cornelia Kolbeck/Michael Reischmann

Konstruktive Diskussionen und Einbeziehung der ärztlichen Expertise sind nötig, um die Herausforderungen der Pandemie zu bewältigen. Konstruktive Diskussionen und Einbeziehung der ärztlichen Expertise sind nötig, um die Herausforderungen der Pandemie zu bewältigen. © iStock/Jirsak
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Die Coronakrise hat die medizinische Versorgung in Deutschland enorm beeinflusst. Über die schweren Aufgaben für die Praxen und was nach der Pandemie bleiben wird, sprachen wir mit den KBV-Vorstandsvorsitzenden Dr. Andreas Gassen und Dr. Stephan Hofmeister.

Schutzausrüstung, Schutzschirm, Beschränkungen, ständig neue Regelungen, die Test- und Impfstrategien – wie zufrieden sind Sie mit der Politik von Bund und Ländern?

Dr. Gassen: Den Schutzschirm aufzuspannen über die Arzt- und Psychotherapeutenpraxen mit einer 90-%-Honorargarantie war notwendig. Wir haben ja gemerkt, wie wichtig die ambulante Infrastruktur für die Bewältigung der ersten Welle der Coronapandemie war und auch jetzt wieder ist. Im Moment werden 19 von 20 Patienten ambulant versorgt, im Frühjahr waren es sechs von sieben. Da die Pandemie noch nicht zu Ende ist, wird es umso wichtiger, dass der Schutzschirm auch 2021 weitergeführt wird.

Dr. Hofmeister: Eine Herausforderung ist, die Coronamaßnahmen den Bürgerinnen und Bürgern zu kommunizieren, damit sie nachvollziehbar, transparent, plausibel sind. Und nur, wenn Maßnahmen einheitlich sind, können sie bei längerer Dauer auch eingehalten werden. Das ist etwas, wo wir uns zurzeit politisch etwas verlaufen.  

Haben die politisch Verantwortlichen die Einschätzungen der Praktiker aufgrund der Dominanz von Virologen und Intensivmedizinern zu wenig beachtet?

Dr. Gassen: Wir halten die Einschätzungen von versorgenden Ärzten für essenziell. Sie leisten die Versorgung und die Patienten vertrauen ihnen. Nehmen wir das Beispiel Corona-Warn-App. Ein entscheidender Faktor für die Nutzung und die Meldung der Befunde ist z.B. die Empfehlung der jeweiligen Ärztinnen und Ärzte. Da wir  nicht alle Bürger in den Praxen sehen, ist es schon wichtig, dass die Politik informiert. Vorteilhaft wäre natürlich, wenn sie sich dazu besser abstimmen würde. Wir haben auch den Eindruck, dass bei den Entscheidungen zu Maßnahmen ärztliche Erfahrung nur bedingt Eingang findet. Bewertungen werden häufig von Nicht­-Ärzten erstellt. So sinnvoll vielleicht Modelle sind, um einen Überblick zu bekommen, so regelhaft zeigt sich, dass Modelle nicht stimmen. Das macht es schwierig, Bürger mitzunehmen. 

Dr. Hofmeister: Es ist falsch, rückwirkend zu sagen, dies oder das wäre bei einer Maßnahme besser gewesen. Das ist anmaßend. Das Ganze ist eine ungeheure Herausforderung für die Politik. Aber es ist notwendig, dass wir mitsprechen und dass die ärztliche Expertise der Versorger vor Ort einbezogen wird. Wir müssen ja nicht nur als Schutzwall für die Kliniken die Coronaerkrankten, sondern alle Patienten behandeln.

Kürzlich hat die Bundesärztekammer einen Pandemierat gebildet. Kann dieser bei der Einbindung ärztlicher Expertise in die politische Planung helfen? 

Dr. Gassen: Diplomatisch geantwortet: Grundsätzlich ist ein Pandemierat keine schlechte Sache, man kann natürlich die Frage stellen, warum hat die BÄK den Rat jetzt gegründet und nicht schon im Frühjahr zu Beginn der Pandemie. Wir, die KBV und die Vertragsärzte, sind nicht geladen – 110 000 Praxen somit aus den Beratungen herausgehalten. Ich habe auch ein bisschen die Sorge, dass es sehr lange dauern wird, bis handfeste Vorschläge unterbreitet werden.

Dr. Hofmeister: Der Rat ist wohl eher etwas für die Zukunft, indem man sich grundsätzlich zum Umgang mit Pandemien beschäftigt.  

Es gab viel Kritik an Ihrem Positionspapier zur Pandemie. Hätte dieses breiter abgesprochen werden sollen? Wird es überarbeitet?

Dr. Gassen: Wir haben nicht den Ehrgeiz, das Papier ständig zu überarbeiten, sondern wollten auch einen Impuls setzen. Wir haben eine heftige Reaktion hervorgerufen. Es gab viel Zustimmung, auch aus dem Kreis der Vertragsärzte, und es gab Kritik – weniger wegen des Inhalts als zum Verfahren der Veröffentlichung. Die Abstimmung zum Papier war sicher nicht ideal. Das würden wir beim nächsten Mal anders machen. Unsere Intention war es, eine innerärztliche Diskussion zu bekommen im Ringen um beste Lösungen in der Pandemie. Man kann ja hierzu eine andere Meinung haben. Irritierend empfinde ich es aber, wie rabiat zum Teil reagiert wurde. Zurzeit sind wir dabei, mit Fachgesellschaften und Berufsverbänden den Dialog zu suchen, um zu prüfen, ob sich für die Krisenbewältigung ein Instrumentenkasten installieren lässt.

Woran denken Sie hierbei?

Dr. Gassen: Beim Schutz der Risikogruppen z.B. ist seit März nichts passiert. Jetzt wird immerhin die Ausgabe von FFP2-Masken seitens des Bundes geplant. Wir wissen aber: Schwere Verläufe und Todesfälle finden überwiegend in Risikogruppen statt. Hier lassen sich sicher mit wenig Aufwand Leben retten. 

Was sagen Sie zu den Querdenkern unter den Ärzten?

Dr. Hofmeister: Es ist extrem besorgniserregend, wenn zu so einem gravierenden gesamtgesellschaftlichen Thema wie der Pandemie nur noch eine Diskussion zwischen Gut und Böse möglich ist. Wir sehen das bewusst anders. Das ist ein hochkomplexes Thema. Das Ringen und das Dazulernen gehören sowohl zu den Grundpfeilern der Demokratie als auch der Wissenschaft. Es gibt hier kein falsch oder richtig. Uns sollte auch nicht abschrecken, dass manche den kritischen Dialog ablehnen. Dennoch müssen manche Dinge diskutiert werden. Mit Angst und Schreckensszenarien erreiche ich weder Compliance, noch Überzeugung. Im Gegenteil, man muss Menschen gewinnen, mitnehmen, überzeugen. Diese Diskussion wollten wir auch mit dem Positionspapier anstoßen. 

2020 ist geprägt von Corona, viel Arbeit wurde in die digitale Ebene verlagert. Was ist vom Konzept „KBV 2020“ geblieben?

Dr. Gassen: Es besteht natürlich weiterhin die Möglichkeit eines regelhaften Austauschs mit den KVen. Aber für die finale Abstimmung des KBV-Folgepapiers stand noch ein letzter Workshop an. Und da sieht man mal wieder, was passieren kann, wenn ein Papier sehr lange in der Abstimmung ist. Wir haben den Termin dafür schon viermal verschoben, jetzt aber einen neuen für Januar geplant. Vielleicht müssen wir eine digitale Veranstaltung durchführen oder das Ganze doch weiter ins Frühjahr verschieben. 

Dr. Hofmeister: Durch die Notwendigkeit, sich digital zu treffen, haben wir die Frequenz der Treffen mit den KVen sogar formal erhöht. Aber die Qualität und die Intensität der Gespräche leiden. Die Vertrautheit fehlt im Dialog ebenso wie in Vertragsverhandlungen. Die Digitalisierung betrifft auch die Praxen. Die Video­sprechstunde ist hier ein wichtiges Instrument, aber es ist eben kein Ersatz für eine Arzt-Patienten-Beziehung im selben Raum.    

Hat uns die Pandemie in der ärztlichen Versorgung zurückgeworfen oder ist die Inanspruchnahme von einer Überversorgung auf ein realistisches Niveau gesunken? 

Dr. Gassen: Wir haben sehr viele negative Effekte gesehen. Die Menschen sind speziell in der ersten Welle nicht in die Notaufnahmen gekommen und auch bei Früherkennungsprogrammen hat es erhebliche Lücken gegeben. In der Fernsicht wird das Jahr 2020 z.B. vielleicht sogar mehr schwere Verläufe bei Krebs produzieren, weil Vorsorgen versäumt wurden – das wäre schlimm.

Dr. Hofmeister: Die Frage ist, ob wir hier tatsächlich einen starken Rückgang der Patientenzahlen haben. Zwar sind manche Praxen geschlossen worden, etwa wegen Infektionen. In anderen Praxen hat es aber auch mehr Arbeit gegeben durch die Telefonkontakte mit den Patienten. Vieles verschiebt sich, wir haben darüber jedoch noch keinen kompletten Überblick. Es ist allerdings nicht so, dass die Patientenzahlen kollabiert sind. 

Sind Sie zufrieden, dass neue Zentren die COVID-19-Impfungen übernehmen sollen und Praxen erst später eingebunden werden?

Dr. Gassen: Dass Arztpraxen früher dabei sind, haben wir uns schon gewünscht, schon weil diese Infrastruktur besteht. Das Problem ist aber aktuell die Lagerung von Impfstoff bei niedrigen Temperaturen von ca. -70° Celsius, was erhebliche logistische Herausforderungen produziert. Wenn ein Impfstoff verfügbar wäre, mit dem wir dezentral impfen könnten, wie bei Grippeschutzimpfungen mit fertigen Einwegspritzen, dann wäre es ein Leichtes. Dann hätte man auch schnell die Bevölkerung durchgeimpft.    

Werden Sie sich impfen lassen? Soll es eine Impfpflicht geben?

Dr. Gassen: Wenn es einen wirkungsvollen Schutz gibt, werde ich mich natürlich impfen lassen. Impfungen gehören zu den großen Errungenschaften der Medizin. Ich bin jedoch grundsätzlich gegen eine Impfpflicht. Klar ist allerdings auch: Wenn sich die Menschen gegen ­COVID-19 impfen lassen können, kann es auch keine beschränkenden Maßnahmen wegen Corona mehr geben. 

Dr. Hofmeister: Der Diskurs um eine Impfpflicht würde nur zur Impfablehnung führen. Besser ist maximale Transparenz über den Wirkstoff. Das sollte ausreichen, um entsprechende Impfzahlen zu erreichen. Wir haben aber gefordert, dass das medizinische Personal die Chance hat, sich schnell impfen zu lassen – auch zum Schutz der Risikogruppen. Wenn der Impfstoff auf dem Markt ist, werde ich mir die Rahmenbedingungen anschauen. Wenn alles okay ist, lasse ich mich impfen.

Wann werden wir uns wieder die Hände geben können?

Dr. Gassen: Sobald ein Impfstoff da ist, wird das sicher bald wieder möglich werden. Man wird vielleicht aber auch sehen, dass sich einige Gewohnheiten geändert haben.

Medical-Tribune-Interview

Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV © Lopata/axentis.de
Dr. Stephan Hofmeister, stellv. KBV-Vorstandsvorsitzender Dr. Stephan Hofmeister, stellv. KBV-Vorstandsvorsitzender © Lopata/axentis.de
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