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Pollen im Flugrausch machen mich zur Qualle

Autor: Dr. Frauke Höllering

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Vom Pollenflug in eine knochenlose Qualle verwandelt fühlt sich MT-Kolumnistin Dr. Frauke Höllering. Aber es hilft nichts, die Praxis ist voll. Wie sie mit Triefnase ihre Heuschnupfenpatienten verarztet – viel konsequenter als sich selbst.

Wie in jedem Jahr, fing es auch diesmal mit diesen widerlichen, fehlfarbenen Würmchen an, die  an den Haselnusssträuchern baumelten. Wenn andere das Aufblühen der Forsythien und das Sprießen in Garten und Flur sehnsüchtig erwarteten, konnte ich nur hoffen, dass ein regnerischer Frühling in einem schnell auftauchenden Juni enden würde.

Nun aber, da die Birken, deren Würmchen zwar etwas hübscher, aber umso giftiger sind, in voller Blüte standen, wurde mir selbst der geliebte Golfplatz zur Folteranlage.


In der Praxis war es nicht besser: „Gesundheit!“, sagte meine Mitarbeiterin freundlich, sobald ich durch die Tür trat. „Sagen Sie das bitte nicht mehr“, brummelte ich, „sonst kommen Sie vor lauter Segenswünschen nicht mehr zum Arbeiten.“

Ich will mich nicht als Therapieniete erweisen

Ich schleppte mich in mein Sprechzimmer. Waren es die garantiert nicht müde machenden Antihistaminika oder die Pollen, die mich in eine knochenlose Qualle verwandelt hatten? Keine Zeit zum Nachdenken, denn schon schlich ein mir unbekannter Patient herein und ließ sich in den Besucherstuhl fallen: “Ich brauche dringend meine Spritze!“, sagte er fordernd.


Seine Beweglichkeit sprach nicht für eine Ischialgie, aber seine schweren Lider waren mir verdächtig: „Was für eine Spritze?“, fragte ich, eher rhetorisch. „Mein letzter Arzt hat mir zweimal im Jahr eine Kortisonspritze gegen Heuschnupfen gegeben“, sagte er erwartungsgemäß. „Die brauche ich jetzt dringend!“

Nach alter Schule behandelt?

Aha, das muss ja ein Arzt sehr alter Schule gewesen sein. „Das macht man aber nicht mehr“, sagte ich, ein Niesen unterdrückend, „weil das Kortison meist überdosiert und in viel zu unregelmäßigen Dosen freigesetzt wurde.“ Wer schon mal mit einem Pfund Watte im Kopf ein Streitgespräch geführt hat, der weiß, was nun geschah.

Zum Glück hatte meine eigene Medikation nun so weit gewirkt, dass ich mich nicht durch tränende Augen und Niesattacken als totale Therapieniete in eigener Sache demaskieren musste.

Dieser junge Mann ging zwar zweifelnd, aber halbwegs zufrieden. Ich hatte ihm sicherheitshalber ein Kortikoid aufgeschrieben für die Tage, denen wir beide nichts abgewinnen konnten: Jene, an denen die Natur unter herrlicher Sonne explodierte und der gelbe Film auf der Frontscheibe mir versichern würde, dass das Kabriodach besser geschlossen bliebe.

Wer sagt, dass wir Ärzte bessere Patienten sind?

Zeit, das eigene Tun selbstkritisch zu hinterfragen: „War es eigentlich in Ordnung,  das Zaubermittel Kortison selber zu schlucken, um doch das Autodach öffnen zu können oder den kleinen weißen Ball durch die Landschaft zu pfeffern?“

Ich kam mir vor wie ein Herzkranker, der seine Statindosis verdoppelte, um herzhaft in eine fette Bratwurst beißen zu können. Compliance ist anders, aber wer sagt denn, dass Ärzte bessere Patienten sind?

Den nächsten Patienten schickte mir die Rezeptionistin. „Herr M. möchte Salbutamol aufgeschrieben haben“, sagte sie leise und rollte bedeutungsvoll mit den Augen. Ich bot einen Stuhl an und schaute in die Akte: Vor zwei Monaten schon hatte er sich einen Dreierpack besorgt, um für die Saison gerüstet zu sein. 

„Sie müssten eigentlich noch gut versorgt sein!“, konstatierte ich. Damit trat ich eine Lawine los. Er hätte immer schreckliche Luftnot, das Zeug würde gar nicht helfen, außerdem käme nichts mehr heraus, wenn die Flasche erst halb leer sei. Darum hätte er nun gar nichts mehr. Dass sein Lamento so kraftvoll kam, ließ mich die Luftnot bezweifeln; auch war er mit lang wirksamen inhalativen Betamimetika und Kortikoid versorgt.

„Wie hoch ist denn so der Peakflow?“, fragte ich darum. „Na, um die 500“, war die verblüffende Antwort, die durch einen unauffälligen Lungenfunktionstest bestätigt wurde.

„Ihr Herz verträgt so viele Hübe nicht“, drängte ich, „es ist doch jetzt schon angeschlagen.“ Was nun? Eine Dose schrieb ich für „die Not“ auf und dazu eine Überweisung zum Pneumologen. Ich dachte an das Buch „Es“ von Stephen King, in der die psychologische Abhängigkeit vom Asthmaspray eindrucksvoll beschrieben wurde. Der kleine Held hatte damit sogar einen Dämon besiegt. Ob man nicht mal ein Placebospray versuchen sollte? Aber nun musste ich erst einmal meine Nase putzen und vor der Tür hörte ich die nächste Patientin niesen.

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