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Schluss mit den feigen Verlegenheits-Diagnosen!

Autor: Dr. Frauke Höllering

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Patienten können mit dem sekundären Krankheitsgewinn Ihrer vermeintlichen Diagnose oftmals gut leben. Dr. Frauke Höllering berichtet über die Nebenwirkungen diagnostizierter Nicht-Diagnosen.

Wie wundersam war doch das „Sissi-Syndrom“! Eine zweifelhafte Diagnose für überspannte Frauen, die sich am Ende als sogenannte „Nicht-Diagnose“ herausstellte – über die man aber bis zu diesem Zeitpunkt fleißig publiziert hatte.


Kein Wunder, liebt es doch der Arzt, eine Diagnose dingfest zu machen – und mir geht es freilich auch nicht anders. Wie es den „Diagnostizierten“ dabei geht, fällt manchmal leider unter den Tisch, wie mir der Fall eines jungen Mannes neulich zeigte.


Seine Mutter hatte mich angerufen. „Mein Sohn ist jetzt zu einem Ihrer Kollegen in Behandlung gegangen“, erklärte sie, „Sie wissen ja, wie das mit Teenagern ist. Die ziehen sich nicht gerne vor einer Ärztin aus.“ Manche nicht, dachte ich lächelnd, andere sehen das cool. Aber dieser junge Mann, mir bisher als gesund und sportlich bekannt, hatte sich dem Kollegen anvertraut, weil er unter Infektanfälligkeit und damit verbundener häufiger Müdigkeit litt. Der Mediziner, gründlich und versiert, versicherte seinem Patienten nach sorgfältiger Diagnostik, dass dieser bis auf ein chronisches Müdigkeitssyndrom gesund sei. Letzteres fügte er wohl nur hinzu, um dem Leiden einen Namen zu geben. Aber mein Kollege (kinderlos) ahnte wohl nicht, was die Internet-Generation mit so einer Diagnose anfängt.

»Ich musste der Dame ihre vertraute Krankheit nehmen«

So belas sich der junge Mann so lange im Netz, bis er schließlich von einem frühen Siechtum und seinem vorzeitigem Tod ausging. Hier hakte die Mutter klugerweise ein. Wir vereinbarten einen Termin, den ich hauptsächlich einer intensiven Anamnese widmete. Kurz: Rezidivierende Anginen hatten den Patienten (aber zum Glück weder Herz noch Klappen) immer wieder erwischt, wenn er gerade sein Fußballtraining wieder aufnehmen wollte. Das nächste, zu frühe Training warf ihn dann wieder aufs Krankenlager, sodass er die wenigen, leistungsstarken Wochen dazwischen gar nicht mehr wahrnehmen konnte. Nun wird er mit dem HNO-Kollegen über eine Tonsillektomie sprechen und hoffentlich den haarsträubenden Unsinn vergessen, den man im Netz über das chronische Fatigue-Syndrom lesen kann.


Aber auch ich hatte vor einiger Zeit eine „Nicht-Diagnose diagnostiziert und behandelt“, wie es manche Kolleg(inn)en heute noch tun: und zwar den Verdacht auf chronische Borreliose. „Ich muss mal wieder meinen Titer bestimmen lassen!“, wandte sich seinerzeit eine neue Patientin an mich. Sie hatte einmal einen erhöhten Borreliose-Antikörpertiter gezeigt und seitdem eine ganze Reihe antibiotischer Therapien über sich ergehen lassen – Infusionen inklusive. „Erinnern Sie sich denn an eine Wanderröte oder andere Beschwerden?“, fragte ich interessiert. Sie verneinte. Vor meinem inneren Ohr erklang damals der Satz eines renommierten Infektiologen: „Borreliosetiter sind Voodoo!“ Aber wie sollte ich ihr das begreiflich machen?


Nachdem dieser Satz seinerzeit meine Grundfesten erschüttert hatte, wühlte ich mich durch die Fachliteratur, die (vereinfacht) aussagte: „Keine Borreliose-Therapie ohne Hautmanifestation oder Nachweis von Borrelien im Gelenkpunktat oder Liquor.“ Offensichtlich fiel der Titer nicht unbedingt ab, wenn eine Behandlung erfolgreich war, oder stieg an, obgleich das eigene Immunsystem die fiesen Viecher längst vertrieben hatte.

»Sie rauschte auf Nimmerwiedersehen von dannen«

Wie viele Laborbefunde habe ich wohl schon zu therapieren versucht? Nun war ich schlauer und musste dieser Dame ihre vertraute Krankheit nehmen, die ihr doch so viel Sekundärgewinn einbrachte: Auftretende Mattigkeit, die den Gatten zu besonderer Fürsorge verpflichtete, kleine Unpässlichkeiten, die den Kindern Ruhe und Unterstützung abnötigten, den spannenden Austausch von Befindlichkeiten beim Kaffeeklatsch, das mitleidige Raunen der Freundinnen beim Erörtern der Diagnose. Es war mir klar, dass ich auf verlorenem Posten kämpfte! „Sie wollen mir einreden, dass ich gar nicht krank bin?“, fragte die Patientin empört. „Das ist ja das Letzte! Mein letzter Arzt hat sich intensiv um mich bemüht, und Sie wollen nicht einmal Blut abnehmen? Danke, das genügt mir“, sprach es und rauschte auf Nimmerwiedersehen von dannen.


Da saß ich nun: ohne Diagnose und ohne Patientin. Hätte sie vielleicht gern ein chronisches Müdigkeitssyndrom gehabt? Oder eine heimtückische Epstein-Barr-Virus-Infektion, die nie vollends ausgeheilt war? Ein bisschen Fibromyalgie hätte ich ihr anbieten können oder eine psychosomatische Erschöpfung. Ach, was: Ein Sissi-Syndrom wäre doch weit glamouröser gewesen!

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