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Sehnsucht nach normalem Leben

Autor: Dr. Cornelia Tauber-Bachmann

Für alle, die schon vergessen haben, wie es aussieht: Glückliche Menschen beim Einkaufsbummel. Für alle, die schon vergessen haben, wie es aussieht: Glückliche Menschen beim Einkaufsbummel. © iStock/svetikd
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Früher ließ man bei einer Shopping-Tour die Seele baumeln. Heute wecken Terminvergabe in Bekleidungsgeschäften und Coffee to go die Sehnsucht nach der guten alten Zeit.

Eine Shopping-Tour! Wissen Sie noch, was das ist? Also ich habe noch eine vage Erinnerung an gemütliche halbe Tage, an denen ich mit einer Freundin durch die Innenstadt einer der umliegenden größeren Städte gestreift bin. Manchmal mit der Absicht, ein bestimmtes Stück zur Ergänzung für die Garderobe oder für das Wohnzimmer zu finden, manchmal einfach nur zum Zeitvertreib.

Wichtig war nicht das Kaufen, sondern die gemeinsam verbrachte Zeit mit Unterhaltungen und Diskussionen über „Gott und die Welt“. Meist ließen wir den angenehm verbrachten halben Tag gemütlich bei einem Mittagessen, in einem Café oder in einer Eisdiele ausklingen.

Tempi passati! Seit über einem Jahr habe auch ich – wie wir alle – maximal einen Einkaufsbummel im Internet gemacht. 

Aber vor Kurzem benötigte unser Sohn für seinen Arbeitsbeginn „anständige“ und seriöse Kleidung, die für einen Kundenbesuch geeignet ist. Die bisherige Jeans-Pulli-Mode geht höchstens im Homeoffice. Und unsere Schwiegertochter wollte Begleitung.

Zu dritt fuhren wir also an einem Samstagvormittag in die nächste Kreisstadt und steuerten ein großes Modehaus an. Am Eingang wurden wir von einer freundlichen jungen Dame aufgefordert, Zettel mit unseren Adressdaten auszufüllen, selbstverständlich jede(r) einen eigenen. Schließlich sind wir ja getrennte Haushalte. Obwohl wir naiverweise keinen Termin vereinbart hatten, durften wir hinein. Leider wurden wir in diesem Geschäft nicht fündig.

Der nächste Laden war verrammelt bis auf einen Tisch mit Papier und Desinfektionsmittel. Aus der Tiefe des Geschäfts tönte eine herrische Stimme, dass wir als Erstes die Zettel auszufüllen hätten. Während wir im ersten Geschäft nicht Datum und Uhrzeit eintragen durften, bestand die mittlerweile personifizierte Stimme aber darauf. Nach einem Rundgang durch den Laden stellte sich heraus, dass hier der gewünschte Artikel gar nicht geführt wurde.

Wir holten uns erst mal einen Kaffee und tranken ihn – natürlich auf der Straße. Wenigstens schien die Sonne und wir konnten kurz durchatmen. In der Innenstadt besteht Maskenpflicht.

Das nächste größere Bekleidungsgeschäft vergab einen Termin an uns für 30 Minuten, aber erst in einer Stunde. Schlauer geworden fragten wir vor den nächsten Geschäften, ob der gewünschte Artikel in der richtigen Größe und Farbe vorhanden sei. Oft war es schwierig, die Verkäuferinnen hinter ihren Masken und aus der Weite der Verkaufsräume zu verstehen. Manchmal waren sie jedoch sehr nett und brachten eine Auswahl nach vorn, andere näherten sich nur von hinten oder in doppeltem oder dreifachen Sicherheitsabstand. Wir armen Käufer landeten schlussendlich im Stadtpark, wo wir auf einer Bank mit unseren Handys im Internet nach dem passenden Kleidungsstück fahndeten!

Nach diesem Erlebnis kann ich nun wieder alle Patienten besser verstehen, die sich bei mir in der Sprechstunde beklagen. Sogar die, die sich sonst gut selbst regulieren können, dekompensieren je nach psychischer Struktur mit körperlichen Leiden, Schlafstörungen, irrationalen Ängsten oder depressivem Rückzug. Manche haben Tränen in den Augen, manche ballen unwillkürlich die Fäuste oder schimpfen frei von der Leber weg über Ausgangssperre, Isolierung von Freunden, Bekannten und Familie und die Unmöglichkeit zu reisen. Gerade frisch berentete oder pensionierte Patienten sehen sich von der Welt betrogen und alle haben es satt!

Das hat auch die Politik bemerkt und ihre Sprache verändert. Ein strenger Lockdown heißt nun Brücken-Lockdown. Das soll ein Ziel und ein Ende dieser Maßnahmen suggerieren. Aber ob das den Politikern noch geglaubt wird?

Ich freue mich jedenfalls auf den Tag, an dem wir in der Praxisbesprechung nicht mehr diskutieren müssen, ob wir als Geimpfte nun OP-Masken tragen dürfen oder weiterhin FFP2 oder -3 nötig sind, wie wir ggf. die Corona-Impfungen organisieren und wie viel Abstand zu anderen Impfungen einzuhalten ist. Ein Glas Sekt werde ich mir am Ende desjenigen Tages gönnen, an dem der erste Patient zu einer Reiseimpfberatung erschienen ist! Und ganz besonders freue ich mich darauf, wenn mein Handyschreibprogramm nicht mehr bei der Eingabe meines Vornamens als Erstes „Corona“ vorschlägt. Bis dahin ist es aber wohl noch lange hin.

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