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Vierte Welle Spahn bedauert unzureichende kommunikative Wirkung

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Es gibt viele Werkzeuge für die Landespolitiker zum Eindämmen von Corona, auch 2G. Die Praxis zeigt, es reicht noch nicht. Es gibt viele Werkzeuge für die Landespolitiker zum Eindämmen von Corona, auch 2G. Die Praxis zeigt, es reicht noch nicht. © blobbotronic – stock.adobe.com
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Die Coronapolitik von Union und SPD bzw. deren Lockdowns, Test- und Impfstrategien zum Brechen der Pandemiewellen führte in den letzten Monaten zu viel Gezeter und Kritik. Eine geplante Koalition aus SPD, Grünen und FDP glaubt, es besser machen zu können. Aber angesichts rasant steigender Infektionszahlen überzeugen die Parteien nicht.

Die kontroversen Ansichten zur Coronapolitik wurden wohl am besten in der Bundestagsdebatte zum geänderten Infektionsschutzgesetz deutlich, das letztlich gegen die Stimmen von CDU/CSU sowie AfD und bei Enthaltung der Linken von der Ampel-Mehrheit gebilligt wurde. 

Die Union warnte davor, die Regelungen zur epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht über den 25. November hinaus fortzuführen angesichts steigender Inzidenzen und zunehmend be- oder überlasteter Intensivstationen. „Die Zahlen gehen hoch und Sie reduzieren die Maßnahmen“, wetterte Unionsvertreter Stephan Stracke im Parlament. Das könne nicht gut gehen. Dem widersprach die SPD-Abgeordnete und Ärztin Sabine Dittmar. Die Länder hätten mit dem Gesetz „mehr Möglichkeiten effizienten Handelns“ als zuvor. Als scharfes Schwert in der Pandemiebekämpfung lobte auch die FDP das neue Gesetz, dem in einer Sondersitzung kurzfristig auch die Länderkammer zustimmte. 

Beschlossen wurde von den „Ampel“-Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ein neuer bundesweit anwendbarer Maßnahmenkatalog. Dieser erlaubt das behördliche Anordnen von Abstandsgeboten im öffentlichen Raum, Kontaktbeschränkungen im privaten und öffentlichen Raum, Maskenpflicht sowie die Pflicht zur Vorlage von Impf-, Genesenen- oder Testnachweisen, Personenobergrenzen bei Veranstaltungen, Auflagen für den Betrieb von Gemeinschaftseinrichtungen wie Hochschulen oder der Erwachsenenbildung sowie das Verarbeiten von Kontaktdaten von Kunden, Gästen oder Teilnehmern einer Veranstaltung. Das Schließen von Einrichtungen ist im Einzelfall auch erlaubt, nicht aber ein bundesweiter Lockdown. Letzteres betonten die Koalitionäre in spe deutlich.

Per Übergangsregelung ist den Ländern jedoch gestattet, bereits beschlossene Maßnahmen bis zum 15. Dezember 2021 beizubehalten. Diese Chance nutzen einzelne Länder derzeit, weil die Eskalation der Lage vor Ort drastisches Eingreifen erfordert. 

Jens Spahn, noch geschäftsführender Bundesminister für Gesundheit, sieht Deutschland in einer schwierigen, wenn nicht sogar in der schwersten Lage in dieser Pandemie.: „Es ist 10 nach 12!“ Eindringliche Warnungen kommen auch von Professor Dr. Lothar H. Wieler, Präsident des Robert Koch-Institutes (RKI): „Ganz Deutschland ist ein einziger großer Ausbruch. Das ist eine nationale Notlage, wir müssen jetzt die Notbremse ziehen.“

Eine große Herausforderung: Überzeugen, Impfen, Boostern

Wann sich die vierte Coronawelle brechen lässt, mag keiner vorhersagen. Der Vorsitzende der STIKO, Professor Dr. Thomas Mertens, sprach gegenüber dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ schon von einer möglichen fünften Welle, wenn nicht ausreichend Menschen immunisiert sind. Ihre Unterstützung für eine Impfoffensive haben Vertreter von Bundesärztekammer, Krankenhäusern und Niedergelassenen zugesagt. „Dringend erforderlich für die Impfkampagne ist ein politisches Konzept zur substanziellen Steigerung der Erst- und Zweitimpfungen der erwachsenen Bevölkerung“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Der Medizinische Dienst wird aufgefordert, sich personell einzubringen und die Kliniken vor bürokratischem Aufwand zu verschonen, also Prüfungen zurückzustellen. An den Impfungen gegen COVID-19 beteiligen sich inzwischen wieder mehr als 45.000 Arztpraxen. Und es gibt auch genügend Impfstoff, wie Jens Spahn betont. Der Impfstoff von Moderna könne auch für die Boosterimpfung genutzt werden. „Von diesem haben wir viel, auch vorrätig. Zudem finde ich wichtig, Impfstoff so zu nutzen, dass keiner verfällt.“ Beide Impfstoffe, von BioNTech und Moderna, seien gleich gut geeignet zur Auffrischimpfung. Einen Sturm der Entrüstung löste das Ministerium mit der Ankündigung aus, dass ab dem 23. November pro Vertragsarzt und Woche nur noch 30 Dosen BioNTech bestellt werden können. KBV, KVen und Ärzteverbände äußerten unisono Unverständnis. Dr. Markus Beier, Vorsitzender des Bayerischen Hausärzteverbandes, sprach sogar davon, bei Nichtrücknahme der Entscheidung müsse der geschäftsführende Minister von Kanzlerin Dr. Angela Merkel „sofort aus dem Amt entfernt werden“. In einer kurzfristig anberaumten Bundespressekonferenz stellte Spahn klar, dass das Verfallsdatum von Moderna nur ein Teilaspekt sei. Dass der BioNTech-Impfstoff allein nicht ausreiche, hätte besser kommuniziert werden müssen. Spahn bedauerte die Verärgerung von Ärzten und Bürgern: „Alles wird ausgeliefert.“ In den Praxen baue sich deshalb zurzeit ein Puffer auf. „Das ist gut so.“

RKI-Chef: Wir haben immer rechtzeitig gewarnt

Bayern und Sachsen waren die ersten, die auf die Bremse traten. Von verhältnismäßigen Maßnahmen spricht der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer hinsichtlich der von CDU, Grünen und SPD im Land beschlossenen Notfallverordnung, die Ausgangsbeschränkungen von 22 bis 6 Uhr für Ungeimpfte und Nicht-Genesene in Hotspot-Regionen vorsieht. Alle körpernahen Dienstleistungen sind untersagt, eine Ausnahme bilden Friseure.  Bayerns Ministerpräsident ­Markus Söder hatte schon am 11. November den Katastrophenfall für den Freistaat ausgerufen. Die Krankenhausampel steht hier auf Rot. Patienten werden bereits nach Italien verlegt. Bayern sucht angesichts der Infektionsdynamik einen Weg zum „Blocken. Bremsen. Boostern“. Landesweit gelten Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte (max. fünf Personen ab zwölf Jahren aus zwei Haushalten) sowie für Hotspots mit einer 7-Tage-Inzidenz über 1.000 diverse Einschränkungen.  Professor Dr. Franz C. ­Mayer, Rechtsexperte der Universität Bielefeld, verwies gegenüber „ZDF heute“ darauf, dass mit Auslaufen der pandemischen Lage nationaler Tragweite viele Maßnahmen nicht mehr möglich seien. Ausgangssperren gebe es nicht mehr, auch Einzelhandel und Reisen könnten nicht mehr beschränkt sowie Kitas und Großveranstaltungen nicht mehr geschlossen werden. „Jede Menge Verbote sind verboten.“ Das Ganze sei jedoch Teil eines Kompromisses, der beinhalte, dass alles nur bis zum 15. Dezember gelte.  Wer ist schuld an der eskalierenden Lage? Bei der Beantwortung diese Frage schieben sich die Parteien gegenseitig den schwarzen Peter zu. Das RKI habe jede der vier Wellen rechtzeitig vorausgesagt, rechtfertigt sich Prof. Wieler. Am 8. Juli sei eine Modellierung publiziert worden und darauf aufbauend wäre das RKI-Strategiepapier „ControlCOVID“ überarbeitet worden.  Im Juli sei notiert worden, dass jetzt Boosterimpfungen ge­plant und vorbereitet werden sollten und die Bevölkerung über mögliche Szenarien für den Herbst zu informieren ist. Es sollte ein Monitoring geben zu Impfbereitschaft, Ausbruchsgeschehen und zum Einhalten von Basismaßnahmen durch Geimpfte und Genesene. Das Papier erwähnte auch kontaktreduzierende Maßnahmen und dass sich Altenpflegeheime mit einer systematischen Teststrategie auf den Herbst vorbereiten sollten.  Spahn zeigt sich inzwischen selbstkritisch: Er hätte früher und deutlicher auf die mögliche Entwicklung hinweisen müssen. Vieles sei allerdings auch beschlossen worden, etwa im August das Boostern. Jedoch mit offenbar unzureichender kommunikativer Wirkung. Bund und Länder hätten zu lange gezögert, ist von vielen Seiten zu hören. Und auch die jüngsten Beschlüssen werden vielfach skeptisch gesehen. Die Ministerpräsidentenkonferenz beispielsweise hat das notwendige Handeln an die Hospitalisierungsrate im jeweiligen Bundesland gebunden. Weil die Zahlen zur Klinikbelegung aber verzögert kommen und als Frühwarnindikator nicht optimal sind, erwarten Spahn und Prof. Wieler, dass die Länderexperten vorausschauend „eher früher als später Maßnahmen treffen“, also nicht warten werden, bis die Corona-Ampel knallrot ist. Es gebe drei wichtige Faktoren für die Belastung des Gesundheitssystems so Prof. Wieler: die Inzidenz, die Hospitalisierung sowie die Belegungsrate auf den Intensivstationen. Das hätten die Leute in den Ländern im Blick. 

Probleme bei Umsetzung föderaler Regeln ungelöst

Der Industrieverband BDI befürchtet z.B., dass mit den Beschlüssen das Umsetzungsproblem bei der föderalen Coronabekämpfung nicht gelöst ist. Selbst eine Impfpflicht für medizinische Berufe oder sogar für alle wird inzwischen von immer mehr Menschen befürwortet. Sich impfen zu lassen, sei Bürger- und Solidarpflicht, das liege längst nicht mehr im Ermessen des Einzelnen, wird argumentiert. Spahn bleibt bezüglich einer verpflichtenden Impfung skeptisch. Aber in dem Moment, in dem die (Ampel-)Mehrheit im Bundestag das Bundesministerium für Gesundheit bittet, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu erarbeiten, werde er als geschäftsführender Minister das natürlich tun. Bisher kommt seitens der Ampel Zuspruch für eine Impfpflicht bei Gesundheitsberufen. Eine allgemeine Impfpflicht, wie von Markus Söder gefordert, wird aber strikt abgelehnt.

Medical-Tribune-Bericht

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