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Strapaziös – meine janusköpfigen Patienten

Autor: Dr. Frauke Höllering

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Dem Patienten gegenüber ist man nicht verlegen, die besten Ratschläge auszupacken, um kurz darauf dieselben selbst zu brechen. Ist schon eine Crux, meint MT-Kolumnistin Dr. Frauke Höllering.

Neulich, als ich nach der Praxis schnell noch zum Einkaufen hastete, erhielt ich unverhofft einen Einblick in unverblümte jugendliche Subkultur: Ein dralles, wagemutig ungüns­tig gekleidetes Mädchen kam mir entgegen, schaute ins Schaufenster neben sich und brummte: „Glotz nicht so, Schlampe!“ Nachdem ich sekundenlang darüber nachgedacht hatte, warum sie ihr Spiegelbild beschimpfte, wurde mir klar, dass sie mich gemeint hatte.


Offensichtlich hat sie sich nur nicht getraut, mir diesen derben Spruch direkt ins Gesicht zu sagen. Ich musste hell auflachen; gut, dass ich weit genug weg war, sonst hätte ich wahrscheinlich noch eine ungewaschene rechte Gerade erleben müssen.


Nun zählt dieser ungehobelte Teen nicht zu meinen Patientinnen, aber ich bin mir sicher: Wäre sie mir in der Praxis begegnet, dann wäre sie lammfromm gewesen. Diese kleine Begegnung ließ mich darüber philosophieren, wie janusköpfig doch manche Patienten sind.

»Draußen ungehobelt, in der Praxis lammfromm«

Ich dachte an einen rotnasigen Mittfünfziger mit aufgedunsenem Gesicht und Leberwerten, die mich erschrecken ließen. Seine Frau hatte angedeutet, dass sein Alkoholkonsum über alle erträglichen Maße liege und sein Jähzorn dann eine Qual sei. Er aber stahl mir regelmäßig die Zeit mit Mutmaßungen darüber, welche Tabletten wohl seine Werte so durcheinander gebracht hätten. „Das kleine Bierchen hin und wieder kann nicht schuld sein!“, hatte er schon beim ersten Termin kategorisch erklärt und mir verschwörerisch zugelächelt.


Sei es drum. Schlimmer fand ich den fast devot auftretenden Jämmerling, der vor lauter „Ja, Frau Doktor!“ kaum aus dem Nicken herauskam, aber nachweislich seine Frau schlug. Sämtliche Versuche, dieses Thema vorsichtig ins Gespräch zu bringen, scheiterten: „Aber wir sind doch ein Herz und eine Seele!“ Leider war seine Frau zu einem Gespräch zu dritt nicht zu überreden.


Aber auch Frauen neigen in der Praxis nicht immer zur Wahrhaftigkeit. „Dr. X. ist ja eine Katastrophe!“, sagte mir eine, die zu uns gewechselt hatte, „aber Sie sind eine ganz tolle Ärztin! Das sage ich auch allen.“ Zum Glück sehe ich solche Aussagen dank gewachsener Lebenserfahrung äußerst kritisch und war daher wenig überrascht, als sich die Patientin einem Fachkollegen anvertraute: „Sie sind ja ein wirklich guter Arzt, aber meine Hausärztin ...“

»Auf Diät, aber den Einkaufswagen voll mit Chips und Cola«

Junge Männer (und Frauen!) mit in Schlägereien gebrochenen Handknochen saßen brav und bieder in meinem Sprechzimmer und konnten sich gar nicht erklären, wie es zu der tätlichen Auseinandersetzung gekommen war. Machos, die ich herumlümmeln gesehen habe, wie sie Frauen mit anzüglichen Bemerkungen zum Wechseln der Straßenseite zwangen, berichteten mir ängstlich und mit leidender Stimme von vagen Symptomen, die ihre Opfer wahrscheinlich mit einem Schulterzucken abgehakt hätten.


Die Rubensdamen, die mir von ihren tapferen Selleriediäten und steter Askese berichteten, um sich später von mir im Supermarkt mit einem Wagen voller Süßem und Fettem erwischen zu lassen, sind Legion – sprich: zahlreich vorhanden. Unvergessen jener Dialog an der Kasse: „Guten Tag, Frau L., da haben Sie ja allerlei Köstlichkeiten eingekauft!“ Dies war mir herausgerutscht, als ich im Wagen nur Chips, Cola, Schokolade, weißen Toast, Branntwein und Gehacktes gesehen hatte, obgleich sie doch auf ‚Dauerdiät‘ war. „Das ist alles für meinen Mann!“, hatte sie errötend geantwortet. „Wollen Sie den umbringen?“, hatte ich schneller gefragt, als ich mein Gehirn einschalten konnte. Den Rest des Dialogs habe ich zum Glück vergessen und mich ein bisschen geschämt.


Denn natürlich bin ich auch eine Mischung aus Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Gebe die souveräne Ärztin und sterbe später fast an Lampenfieber wegen eines Sopransolos, das ich zu singen habe. Plaudere einfühlsam, um später mein Auto übelst zu beschimpfen, weil es nicht anspringen will. Erbringe paartherapeutische Glanzleistungen, kurz bevor ich den Mann meines Herzens durch mangelnde Dialogbereitschaft düpiere. Gebe den Gesundheitsapostel und Diättipps, um abends über eine Tafel Schokolade herzufallen. Da ich also offensichtlich im Glashaus sitze, lasse ich die Steine einfach liegen.

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