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Therapieplanung mit „Chrono- oder Bio-Alter“?

Autor: Dr. Cornelia Tauber-Bachmann

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Dr. Cornelia Tauber-Bachmann schreibt über Krankheit im Alter. Entscheidet das chronologische oder das biologische Alter über die weitere Behandlung?

Der junge Mann kam wegen eines Attests für seinen neuen Arbeitgeber. Er ist geistig leicht behindert, was sich im täglichen Umgang vor allem in einer leichten Distanzlosigkeit äußert. Aber nach Förderschule und liebevoller Betreuung durch seine Eltern ist er fähig, einen einfachen Beruf auszuüben. Zuletzt war er Hilfskraft in einem Altersheim. Wegen seiner zupackenden hilfsbereiten Art mochten ihn Bewohner und Pflegepersonal gleichermaßen und alle waren traurig, als er wieder gehen musste, weil seine Stelle nur befristet war. Ganz besonders schmerzlich empfanden es viele Bewohner, dass seine fröhliche und positive Grundstimmung und sein kommunikatives, unkompliziertes Wesen nun nicht mehr die allgemeine Stimmung auf Station dominierte.


Bei mir in der Praxis war er schon fast aus der Tür, als er sich noch mal umdrehte und spontan sagte: “Wenn ich mal alt bin und Krebs kriege, dann lasse ich mich nicht mehr operieren. Das lohnt sich doch nicht mehr.“ Auf meine Frage, was er denn mit alt so meine, antwortete er: „60 oder so.“


Ich gebe zu, da musste ich schlucken. Wenn man, wie ich, zwar noch nicht 60 ist, dieses Alter aber zumindest schon absehen kann, also quasi schon „auf dem Schirm“ hat, dann rüttelt einen so eine Äußerung schon auf. Willkommen in der Rea­lität! Was für eine Konfrontation mit dem wirklichen Leben – spontan ausgedrückt durch einen gut 20-Jährigen, der nicht von höflicher Vorsicht gebremst wird.

"Wie alt ist denn eigentlich 'alt', fragte ich mich"

Alt? So fühle ich mich doch noch nicht! Wie alt ist denn eigentlich „alt“? Habe ich wie viele einfach nur eine falsche Vorstellung? Ich glaube jedenfalls, auch keiner meiner gleichaltrigen Kollegen oder Freunde würde eine wie auch immer geartete Krebsbehandlung aus Altersgründen ablehnen, solange eine realistische Chance auf Heilung oder zumindest Lebensverlängerung besteht. Oder?


Nun ist es in manch anderen Gesundheitssystemen durchaus üblich, Altersgrenzen für bestimmte Operationen und/oder Behandlungen zu haben, zumindest für die Bezahlung dafür durch die öffentliche Hand oder die Solidargemeinschaft. Das lehnen wir in Deutschland ja bisher vehement ab. Und auch die Diskussion um Priorisierung ist bei uns nach heftigen Kontroversen wieder im Sand verebbt – die eingereichten Dossiers verstauben möglicherweise bereits in einer Schublade des Gesundheitsministeriums. Oder tut sich doch etwas?

"Auch die noch zu erwartenden Lebensjahre einkalkulieren"

Kürzlich las ich jedenfalls einen Artikel über onkologische Behandlungen im Alter. Für onkologischen Studien beginnt laut diesem Beitrag das Alter mit 70 Jahren (notabene für die europäische Arzneimittelbehörde mit 65 Jahren); es gibt also quasi keine entsprechenden Studien mit alten bzw. älteren Patienten.


Die Onkologen machen sich sehr wohl Gedanken darüber, sind doch 61 % der an Krebs erkrankten Patienten in den USA älter als 65 Jahre. Und wie in der modernen Medizin üblich, gibt es inzwischen eine Menge verschiedener Assessments und Klassifikationsinstrumente, um körperliche Fitness oder Einschränkungen der Patienten festzustellen. Dies ermöglicht eine sicherere und vielleicht auch bessere Einschätzung des „biologischen“ Alters. Und so soll die Behandlung nicht nach dem chronologischen Alter, sondern eher anhand der individuellen Fitness geplant werden. Auch die noch zu erwartenden Lebensjahre werden dabei mit einkalkuliert.


Wir Hausärzte beraten und behandeln nicht nur in onkologischen Fällen, so denke ich, längst täglich nach derartigen Kriterien. Aber oft wohl mehr aus dem Bauch heraus, nach Gefühl. So könnten für meine Begriffe ein paar weitere Anhaltspunkte zur Objektivierung des „bio­logischen“ Alters und der Lebenserwartung das „Puzzle“ ergänzen – und praktisch doch sehr nützlich sein, unser gefühlsmäßiges Handeln etwas mehr zu überprüfen. Das gilt sowohl für uns selbst als auch für die Kommunikation mit fachärztlichen Kollegen und Patienten – und gegebenenfalls auch mit Juristen (Letzteres allerdings hoffentlich recht selten!). Das lässt für unser eigenes (chronologisches) Alter hoffen. Aber bis dahin: Tun wir etwas für unser bio­logisches Alter! Die Zeituhr läuft ohne­hin ganz von selbst weiter.

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