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Unsere Menschlichkeit erstickt in Formularen

Autor: Dr. Frauke Höllering

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Warum Dr. Frauke Höllering vor lauter Bürokratie sogar den Blickkontakt zu ihrem Patienten vergisst.

Irgendwie war mir mulmig beim Blick auf den Kalender, und ich wusste zuerst gar nicht, warum. Mein nächster Patient war ein liebenswerter Diabetiker in den Fünfzigern. Sein einziges (mir bekanntes) Laster: Trotz einer COPD konnte er die Finger nicht von den Zigaretten lassen.


Hatte ich keine Lust, ihn zu sehen, weil ich meine eigene „Jetzt-müssen-Sie-aber-wirklich-mit- dem-Rauchen-aufhören-Litanei“ fürchtete? Nein, das war es nicht, wenngleich ich auch den Punkt „Nikotin“ auf dem DMP-Bogen am liebsten umschifft hätte – denn ich ging mir wegen des notwendigen Genörgels selbst auf den Wecker. Der Grund für mein schlechtes Gefühl war der Termin: 6 Formulare galt es auszufüllen!


„Moin!“, begrüßte ich meinen Patienten. „Heute haben wir eine ganze Menge vor. Ich hoffe, Ihre Frau wartet diesmal nicht im Auto auf Sie?“ Er lächelte: „Nein, dafür ist es wirklich zu ungemütlich draußen“. Na, so ein Glück, dachte ich, außerdem wäre sie wahrscheinlich verhungert, bis wir fertig sind.

DMP Diabetes, DMP COPD, Gesundheitscheck, Hautkrebsscreening ...

In der „guten alten Zeit“ hätte ich nun den Schreibtisch mit den nötigen Formularen komplett abgedeckt. Dem PC sei Dank brauchte ich dem Chaos aus Zetteln, Stiften, Akten und Büroklammern nicht noch mehr hinzufügen, sondern nur eine neue Seite der elektronischen Akte aufzuschlagen.


„Heute sind die DMP für Diabetes und COPD dran“, erinnerte ich mit betonter Munterkeit, um mir auch selbst Mut zu machen. „Dazu kommen diesmal Gesundheitscheck und Hautkrebsscreening. Natürlich machen wir die Krebsvorsorge wieder mit, wenn Sie einverstanden sind, und heute müssen wir uns auch mal über die Möglichkeit einer Vorsorge-Darmspiegelung unterhalten."



Ich hätte mich nicht gewundert, wenn mein Patient nun einen Kitkat-Riegel ausgepackt hätte. Aber schließlich tut man das als braver Diabetiker nicht, auch dann nicht, wenn es mal wieder länger dauert. So wühlte ich mich mit ihm durch die Anamnese, sprang vom Checkbogen über den für die Krebsvorsorge zu den DMP-Bögen. Hoffend, dass der Blutdruck noch in einem annehmbaren Bereich lag (bisher hatte ich den armen Mann ja nur verbal strapaziert), nahm ich Maß und trug das Ergebnis in alle Bögen ein.

Aufbäumen gegen Sankt Bürokratius tut mir richtig gut

Jetzt kam ich in Fahrt: Schnell in den Mund schauen und sorgfältig Gesicht, Ohren und Kopfhaut inspizieren, den Patienten bitten, sich oben herum freizumachen, währenddessen zurück zum PC sprinten und schon mal einen unauffälligen Befund fürs Hautkrebsscreening eintragen (den ich bei Bedarf wieder rückgängig machen würde), wieder hin zum Patienten, abhorchen und Oberkörper inspizieren, zurück zum PC, letzte Anamnesefakten nachtragen, während er sich oben an- und unten ausziehen sollte, Krebsvorsorgefragen stellen und eintragen.


Zurück zum Patienten: Inspektion von hinten im Stehen, rauf auf die Liege, Abdomen palpieren, Rest betrachten, Pulse, Neurologie, rektale Untersuchung, alles ging wie am Schnürchen. Während der gute Mann sich wieder anzog, komplettierte ich den Krebsvorsorgebogen und holte mir das Ergebnis des Lungenfunktionstests auf den Schirm. Zügig wühlte ich mich durch die entsprechenden DMP-Fragen.


Aber dann: Wo waren noch die Aufklärungsbögen zur Darmkrebsvorsorge gespeichert? Mein genialer Zeitplan geriet ins Schleudern. Während ich im Computer suchte, begann ich meinen Vortrag über den Sinn der Vorsorgekoloskopie.


Glücklicherweise schaute ich zwischendurch hoch und fing den irritierten Gesichtsausdruck meines Gegenübers auf: „Sie wollen mir einen Schlauch in den Darm schieben lassen und schauen mich nicht einmal an, während Sie das vorschlagen?“, sagte der Blick. Ich schämte mich zutiefst und nahm die Finger von der Tastatur. Ich schaute ihm fest in die Augen und berichtete ihm von den guten Erfahrungen, die ich mit dieser Untersuchung gemacht hatte. Wie viele Patienten buchstäblich gerettet wurden, weil ein fieser kleiner Polyp noch vor der Entartung oder erst kurz danach entfernt wurde.

Eine interessante Krankheit? Nein, noch ein Formular

Zehn Minuten später verließ er die Praxis ohne das vorgeschriebene Merkblatt, aber mit einer Überweisung zum Gastroenterologen. Dieser kleine zivile Ungehorsam, dieses letzte Aufbäumen gegen Sankt Bürokratius tat mir gut. Sogar die Recalls hatte ich selbst eingegeben, weil  ich gerade so in Schwung war.


Beflügelt empfing ich den nächsten Patienten. Welche medizinischen Herausforderungen, welche  spannenden Themen würde er mitbringen? „Ich wollte Sie bitten, dieses Formular für mich auszufüllen!“, sagte er.

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