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Verstörte Psyche! Muss ich immer Verständnis zeigen?

Autor: Dr. Cornelia Tauber-Bachmann

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Als Psychosomatikerin bekommt unsere Kolumnistin Einblick in interessante - und verstörende Krankengeschichten. Sie fragt: ist jedes Verhalten durch die eigene Vergangenheit zu rechtfertigen?

 Ein schätzenswerter Vorteil der von mir absolvierten berufsbegleitenden Psychotherapie-Ausbildung ist, dass ich immer wieder zu interessanten Vorträgen und Seminaren eingeladen werde, die vom Thema her glücklicherweise – oder vielleicht auch unglücklicherweise – weit von meiner Praxistätigkeit entfernt sind.

Dabei dreht es sich natürlich zunächst grundsätzlich um psychologische Themen. Diese sind oft von gesellschaftspolitischer bzw. soziologischer Relevanz oder haben mit beiden Themenbereichen zu tun. Ein sehr weites Feld! So bekam ich also kürzlich eine Einladung zu einem Vortrag mit dem ganz schön provokanten und irritierenden Titel: „Der norwegische Terrorist A. B. Breivik – ein Monster? Die Inkarnation des Bösen?“ Und nach den Terroranschlägen in Frankreich war der Abend dann auch sehr gut besucht. Ein namhafter norwegischer Kollege erläuterte die Lebensgeschichte von Breivik.

Anders Breivik - ein Monster?

Da Breivik sich nach dem von ihm verübten Massenmord auf der Insel Utøya der Polizei ergeben hat und nicht in einem finalen „Show-Down“ seinen eigenen Tod suchte, zieht er eine ganz besondere Aufmerksamkeit auf sich. Er ist gewissermaßen ein „interessantes Anschauungsobjekt“ für Psychiater, Gutachter, Psychosomatiker und Psychotherapeuten. Was macht ihn so interessant?

Breivik, Jahrgang 1979, ist seit dem Alter von zwei Jahren beim Jugendamt Oslo bekannt. Seine Mutter wurde mit ihm nicht mehr fertig. Mit vier Jahren kam er in kinderpsychiatrische Behandlung. Ein zeitweiliger Aufenthalt in einer Pflegefamilie wurde abgebrochen, am Wochenende kam er in eine sogenannte „Entlastungsfamilie“. Ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik blieb ohne Erfolg. Schon als als Kind fiel er durch seine Gewalttätigkeit auf, quälte Tiere und mobbte andere Kinder, zeigte sich aber nach außen hin angepasst.

Kindheit von Unsicherheit geprägt

Er litt unter einer Enuresis nocturna bis zum 12. Lebensjahr und hatte vermutlich ein ADHS. Seine Versuche, beruflich als selbstständiger Unternehmer mit legalen und vermutlich auch illegalen Geschäften Erfolg zu haben, scheiterten alle. Und so zog er mit 27 Jahren wieder zur Mutter zurück. Von dort aus plante er fünf Jahre lang seine Anschläge und den Massenmord.

Die Lebens- und Krankengeschichte lässt bei ihm eine massive Selbstunsicherheit und ein ambivalent unsicheres Bindungsmuster vermuten. Hin- und hergerissen im Sorgerechtsstreit der Eltern um ihn, den schwierigen Familienverhältnissen, der wohl psychisch kranken Mutter und des sehr narzisstischen Vaters konnte er keine innere Sicherheit erleben – soweit man das aus der relevanten Lektüre und dem Vortrag schlussfolgern kann.

Relativ gut lassen sich auch seine psychischen Abwehrmechanismen beschreiben. Für einen Antrag an den Gutachter ideal! Aber was macht ihn nun zum Massenmörder? Viele Menschen mit einem ähnlichen Schicksal haben psychische oder psychiatrische Probleme, kämpfen in ihrem Leben damit, aber ermorden niemanden. Schon gar nicht geplant.

Was hält einen ab, zu einem Breivik zu werden?

Der vortragende Kollege erklärte, er beschäftige sich gerne mit Fällen, die zunächst niemand verstehen könne. Und er wolle diesen Menschen und diesen Fall verstehen. Wieso? Weil dieser Patient quasi seit Beginn seines Lebens in einem vorbildlichen Gesundheitssystem bekannt war und behandelt wurde? Weil diese Behandlung seine Verbrechen nicht verhindern konnte? Und mein Nachbar in der Zuhörerschaft warf halblaut ein: „Wenn man sich lange genug mit etwas beschäftigt, kann man letztlich alles verstehen!“

Wirklich alles? In unserer Ausbildung haben wir natürlich gelernt, dass wir möglichst viel verstehen sollen – und damit sind keine Fremdsprachen gemeint. Vor allem sollen wir die unausgesprochenen Anliegen und Ängste unserer Patienten verstehen und in unser Handeln mit einfließen lassen. Wir sollen uns in die jeweilige Person „hineindenken“.

Nicht alles verstehen wollen

Aber bedeutet nicht „alles verstehen“ auch „alles verzeihen“? Dieser Satz von Madame de Staël „Tout comprendre, c‘est tout pardonner“ ist auch im deutschen zu einer feststehenden Redewendung geworden. Und wenn ich das bedenke, wird mir Angst. Müssen wir wirklich einen fanatischen Massenmörder verstehen?

Also, es tut mir wirklich leid, aber da ist die Grenze meines Verstehens weit überschritten! Da hört mein Verständnis auf. Und ich glaube auch nicht, dass ich alles verstehen will. Und ich war wohl während und auch nach dem Vortragsabend nicht allein mit diesem Gefühl. Das Schweigen und die wenigen hilflosen Fragen der mit anwesenden Kollegen sprachen für mich Bände. 

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