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Was mich in der Praxis zum Wutbürger macht

Autor: Dr. Robert Oberpeilsteiner

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Wie sieht eigentlich das Gemütsleben eines Arztes aus? Darüber spricht Dr. Robert Oberpeilsteiner, praktischer Arzt aus Berchtesgaden.

Hat sich eigentlich schon mal jemand ernsthaft über unser Gemütsleben Gedanken gemacht? Was wir so fühlen? Was wir so denken? Ich hab’s gemacht – und bin dabei zu einem ganz und gar unspektakulären Ergebnis gekommen. Das Gemüt des niedergelassenen Arztes ist, vereinfacht gesagt, überhaupt nicht kompliziert.


Denn wer um sieben Uhr morgens – vielleicht den nächtlichen Notdienst noch in den Knochen – eines Patienten Fußpilz so hingebungsvoll behandelt, als gäbe es nichts Wichtigeres, der muss seelisch sehr gefestigt sein. In sich ruhend hört sich noch besser an. So einer lässt sich nicht leicht aus der Fassung bringen. Sollte man meinen.

»Das Gemüt springt von Bettelmönch auf Serienkiller«

Dennoch sprang kürzlich meine Gemütsampel von Bettelmönch auf Serienkiller. Eigentlich nur wegen einer Kleinigkeit. Jedenfalls fiel mir dabei der Begriff „Wutbürger“ ein. Der typische Wutbürger, so sagt man, sei kleinbürgerlich, alt und stur und würde vor allem über die Dinge mosern, die seinen gewohnten Lebensrhythmus beeinträchtigen. Aber hallo! Natürlich weise ich diese Eigenschaften, stellvertretend für die gesamte Ärzteschaft, weit von mir.


Alt und stur ließe ich für mich selbst ja noch gelten. Aber schließlich rege ich mich zugunsten unserer Patienten auf, nicht aus Eigennutz. (Diesmal ging es um ein Medikament, das von der Apotheke nicht ins Altersheim geliefert worden war.) Und zu granteln zählt in Bayern längst als soziokulturelle Errungenschaft. Manche sagen sogar, man müsste es als Weltkulturerbe einstufen.


Wo kämen wir denn hin – so fangen die Sätze an, wenn es um Bierpreiserhöhung, Ausländerintegration oder Pkw-Maut geht –, wo kämen wir denn hin, wenn wir uns alles einfach gefallen lassen müssten. Denken wir zum Beispiel an den inzwischen ja deutschlandweit bekannten Notarzt aus Neuburg an der Donau, der einen Strafbefehl über 4500 Euro zugestellt und ein Fahrverbot für sechs Monate bekommen hatte. Weil er schnell unterwegs war. Der Notarzt legte Widerspruch ein. Dazu unterstützten mehr als 200 000 Menschen (auch alles Wutbürger?)eine Online-Petition gegen den Strafbefehl.

»Probleme zum Wütend- werden gibt es genug«

Danach zog die Staatsanwaltschaft ihn zurück. Sie wollte offenbar doch den Notarztdienst nicht unbedingt ins Postkutschenzeitalter zurückbeamen. Irgendwie ist der Begriff „Wutbürger“ doch ziemlich fiese Dialektik. Man geht nicht mehr auf Argumente ein, sondern diagnostiziert einen Gemütszustand des Betroffenen, der ihm klares Denken schlicht abspricht. Die Wut! 
Schwups, schon braucht man sich nicht mehr um seine Probleme zu kümmern. Und Probleme zum Wütend-Werden, gibt es immer noch zuhauf – auch in unserem Beruf.


Was in unserer doch so aufgeklärten Zeit alles möglich ist, berichtete mir ein chirurgischer Kollege: Bei einer Operation war es kürzlich zu unerwarteten Komplikationen gekommen. Die Gabe von Blutkonserven war eigentlich erforderlich. Doch der Patient lehnte sie aus religiösen Gründen ab. Um sicher zu gehen, dass sein Wille auch wirklich geschehe, kreuzte ein Überwachungsteam mit Rechtsanwalt und Privatarzt auf der Station auf. In diesem bedrückenden Umfeld versuchten die Ärzte mit intensivmedizinischen Maßnahmen das Leben des Mannes zu retten, was ihnen aber nicht gelang. Ein unnötiger Tod aus medizinischer Sicht. Eine unsägliche psychische Belastung für das Behandlungsteam. Der Kollege, der mir dies erzählte, bat, anonym bleiben zu dürfen. Verständlich. So wird sich einmal mehr niemand groß darüber aufregen. Kein Wutbürger zu sehen, weit und breit.


Bei uns hat gerade wieder das Altenheim angerufen, dass ein Medikament nicht geliefert wurde. Schon spür ich es kommen, Adrenalinschub, der Blutdruck steigt an – ich glaube, das Gemüt eines Niedergelassenen ist vielleicht doch nicht so robust.

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