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Wenn ein Tränenmeer unsere Praxis überflutet

Autor: Dr. Frauke Höllering

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Was muß passieren, dass man "Sehnsucht nach einem handfesten Fußpilz" hat? Das verrät MT-Kolumnistin Dr. Frauke Höllering.

Nein! Sie wird doch nicht? Doch sie wird: „Frau Doktor“, sagt sie leise, „ich werde wieder gemobbt“, und schon treten Tränen in ihre Augen. Auf die Gefahr hin, jetzt als gefühlloses Monster zu erscheinen, entweicht mir beim Blick auf die Uhr ein leiser Seufzer. Ich will nach Hause!

»Ich habe große Sehnsucht nach einem handfesten Fußpilz«

Heute haben sich die vom Unglück Verfolgten den ganzen Nachmittag die Klinke meines Sprechzimmers in die Hand gedrückt. Wie habe ich mich nach einem kernigen Fußpilz oder einem banalen Infekt gesehnt! Aber nein, es gab nur Kummer satt, und für diesen wenig Auswege.


Ja doch, die junge Frau tut mir leid, aber am liebsten würde ich sie ein wenig an der Schulter rütteln und lauter als angemessen fragen: „Warum machen Sie sich immer wieder zum Opfer? Warum lassen Sie sich alles gefallen? Warum haben Sie nach dem zweiten Mal die empfohlene Psychotherapie nicht begonnen? Was, in drei Teufels Namen, soll ich jetzt machen?“


Natürlich brülle ich nicht, obgleich es schon weit nach achtzehn Uhr ist, als diese letzte Patientin eintritt. Die Schachtel mit Taschentüchern ist fast leer, im Papierkorb türmen sich die vollgeheulten Tempos der Vorgänger. Ich bin ausgelaugt, müde, hungrig und mir sehr bewusst, dass ich auch hier nicht viel ausrichten kann.

»Ein hübsches, neues Leben zum mitnehmen, bitte«

Manchmal wünsche ich mir einen Schrank, den ich wortlos öffnen kann und dem ich ein hübsches, neues, zellophanverpacktes Leben nehmen kann: „Bitte sehr, hier haben Sie ein Exemplar ohne Mängel und von robuster Struktur. Gehen Sie vorsichtig damit um und passen Sie auf, dass es nicht beschmutzt und schon gar nicht zerbrochen wird. Wenn jemand Ihrem neuen Leben ans Leder will, dann laufen Sie, so schnell Sie können, denn es ist kostbar!“ Aber so einen Schrank besitze ich nicht, also gebe ich ungelenk Hilfestellung, während draußen die Dämmerung längst in Dunkelheit übergegangen ist.


Mobbing also. Zuhören hilft, eine Krankschreibung, der eine oder andere Rat, der vielleicht angenommen wird, vielleicht auch nicht. Die meis­ten Taschentücher heute aber hat ein Elternpaar verbraucht, dessen heftig pubertierende Tochter sich in irgendeine sehr unangenehme Lage gebracht hat, die aber keiner kennt. Die junge Lady selbst wiegelt ab, findet alles gar nicht dramatisch, aber stirbt fast vor Angst, wenn es dunkel wird.


Allein in ihrem Zimmer? Niemals, auch nicht nachts, da wird die Matratze seit Wochen ins Elternschlafzimmer geräumt. Aber jetzt: „Alles cool!“ Wie sollte ich hier die Zeit für Aufklärung und Hilfe finden, während sich im Wartezimmer die Patienten stapeln? Mehr als ein paar aufmunternde Sätze („Du kannst Deinen Eltern alles sagen, sie lieben dich doch und können nur helfen, wenn sie wissen, was los ist“) und die Adresse einer Jugendpsychologin kann ich nach 30 Minuten Kummer nicht bieten.


Vielleicht bin ich auch nicht mehr empathisch genug, weil mir zuvor ein obergenervter Herr („Ich bin so aggressiv, ich könnte alles zusammenschlagen!“) und eine nervöse Dame („Ich komme immer noch nicht zur Ruhe, habe schon alle pflanzlichen Mittel versucht, will aber auf keinen Fall was Chemisches!“) den inneren Gleichmut schon reduziert hatten. Beide zeigen natürlich für meinen Vorschlag, sich mit autogenem Training, Yoga oder Tai Chi wieder ins Gleichgewicht zu bringen, kein Verständnis. Da muss man ja selbst aktiv werden!

»Burnout? Ausbrennen darf nur das Kaminfeuer«

Ich kann schon froh sein, dass ich nicht die rechte Gerade des Obergenervten zu spüren bekam. Zum Glück ist auch Zuspruch medizinisch wirksam und so verlassen mich beide mit vorübergehend gebessertem Equilibrium und gutem Rat in der Tasche. Nun also noch Mobbing-Rat.


Während ich zuhöre, schweifen meine Gedanken ab. Vielleicht sollte ich mir ein Burnout zulegen? So quasi als Revanche? Ach nein, das ist nichts für mich. Ich lasse mich zwar gerne entflammen, aber ausbrennen nicht. Auch an diesem Abend werde ich mit dem Schließen der Haustür fast alles abgelegt haben. Den Rest erledigen der Mann meines Herzens, dem ich (anonym natürlich) das Erschütterndste berichten darf, und der Abend am Kaminfeuer. Das ist das Einzige, das ausbrennen darf und auch ausbrennen wird an diesem kühlen Sommerabend.

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