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Wer hat Schuld am Tod der jungen Diabetikerin Emily auf Klassenfahrt?

Gesundheitspolitik Autor: Antje Thiel

Emily und ihr Vater. Nach dem Tod seiner Tochter fordert Kay Schierwagen eine lückenlose Aufklärung. Emily und ihr Vater. Nach dem Tod seiner Tochter fordert Kay Schierwagen eine lückenlose Aufklärung. © Kay Schierwagen privat
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Vor zwei Jahren starb die 13-jährige Emily auf Klassenfahrt. Die Schülerin mit Typ-1-Diabetes erlitt infolge einer unbehandelten Ketoazidose einen tödlichen Herzinfarkt. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen die Lehrkräfte ein, der Vater kämpft weiter.

Für den Vater von Emily, Kay Schierwagen, kam der Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft Ende Februar 2021 völlig überraschend. Er ist nach wie vor davon überzeugt, dass die vier Lehrkräfte während der Klassenfahrt ihre Aufsichtspflicht verletzt und damit fahrlässig Emilys Tod verschuldet haben. Denn sie hätten – so berichten es Mitschülerinnen und Mitschüler – nicht nach Emily geschaut, obwohl diese schon am Morgen nach der Ankunft in London am 28. Juni 2019 Bescheid wussten, dass es ihr nicht gut ging und sie sich die ganze Nacht hindurch übergeben hatte. Auch an den Folgetagen, so Schierwagens Vorwurf, hätten die Aufsichtspersonen sich nicht rechtzeitig darum gekümmert, dass Emily ärztlich behandelt wird.

Diabetes schon eine Weile nicht mehr optimal gemanagt

Dass ihr Tod vermeidbar gewesen wäre, scheint mittlerweile unbestritten. „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ hätte Emily die schwere Stoffwechselentgleisung überlebt, wäre sie einen Tag früher ins Krankenhaus eingeliefert worden. Zu diesem Schluss kommt ein diabetologisches Gutachten, in dem die Krankenhausberichte aus London und der Obduktionsbericht ebenso ausgewertet wurden wie Emilys Insulinpumpenprotokoll und die Patientenakte in ihrer Diabetesambulanz. Aus dem Gutachten geht allerdings auch hervor, dass Emily ihren Diabetes schon eine ganze Weile nicht mehr optimal gemanagt hatte.

Auch während der Fahrt nach London scheint das Mädchen hohe Blutzuckerwerte von über 400 mg/dl nicht bzw. nicht ausreichend korrigiert und viel zu selten seinen Blutzucker gemessen zu haben. Außerdem verzeichnet das Protokoll der Insulinpumpe ab dem zweiten Tag der Reise keine Bolusgaben, obwohl Emily mit ziemlicher Sicherheit weiterhin Kohlenhydrate zu sich genommen hatte. In dem Gutachten heißt es dazu, dieses „in pubertärer Non-Adhärenz fatale Verhalten des Mädchens ist ursächlich für die schwere Keto­azidose“. Für die Gutachterin ist aber auch klar, „dass die Lehrkräfte aufgrund der geschilderten Symptome zwingend weitergehende Maßnahmen hätten ergreifen müssen, wenn sie denn in Kenntnis über die Diabeteserkrankung von Emily gewesen wären“.

Mit Blick auf das Gutachten ging es der Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen deshalb vordringlich darum, herauszufinden, ob Emilys Diabetes den Lehrkräften bekannt war. „Es gibt keine Einlassung im Detail, wann sie erstmals nach Emily geschaut haben“, erklärt eine Sprecherin der Behörde. Die vier Lehrkräfte hätten bestritten, von Emilys Diabetes gewusst zu haben, und sich ansonsten nicht zum Geschehen geäußert. „Als Beschuldigte müssen sie aber auch keine Aussage machen, mit der sie sich möglicherweise selbst belasten könnten.“ Weil sich der Vorwurf der fahrlässigen Tötung nicht erhärten ließ, sieht die Staatsanwaltschaft keinen weiteren Ermittlungsbedarf.

Erkrankung war in der Schulakte vermerkt

Emilys Vater ist das alles zu wenig. „Ich war enttäuscht und traurig, als ich in dem Gutachten gelesen habe, dass meine Tochter ihren Diabetes nicht so mustergültig gemanagt hatte, wie ich immer dachte“, berichtet er. „Wenn Emily zu Besuch bei mir und meiner Lebensgefährtin war, lief es mit dem Diabetes immer gut. Da hatte ich als Wochenend-Papa wohl ein falsches Bild von meiner Tochter.“ Dennoch sieht er die Hauptverantwortung für ihren Tod bei den Lehrkräften. „In der Schule wusste man, dass sie Diabetes hatte. Es war in der Schulakte vermerkt, Emily bewahrte auch Insulin in einem Kühlschrank in der Schule auf.“ All dies wurde in seinen Augen bei den Ermittlungen nicht ausreichend berücksichtigt. „Aktuell habe ich den Eindruck, dass man Emily quasi selbst die Schuld an ihrem Tod gibt“, sagt Schierwagen.

Um eine Wiederaufnahme der Ermittlungen zu erwirken, hat Schierwagen nun einen weiteren Anwalt eingeschaltet und bei der Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen eingelegt. Sein neuer Rechtsbeistand, Wolfgang ­Steffen, war vor seiner Pensionierung Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf und gilt als Strafrechtsexperte. Nach dem Studium der mehr als tausend Seiten umfassenden Ermittlungsakte kommt der Anwalt zu dem Schluss: „In Anbetracht der Schwere des Vorwurfs – es geht immerhin um fahrlässige Tötung und nicht um ein Bagatelldelikt – ist mir der Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft zu oberflächlich.“

Der Jurist begründet seine Beschwerde im Wesentlichen mit zwei Punkten: Zum einen hätten sich die begleitenden Lehrkräfte im Vorfeld der Klassenfahrt kundig machen können, weil sie bis dato nicht in Emilys Klasse unterrichtet hatten und die Kinder somit nicht kannten. Bevor sie mit 70 pubertierenden, teils völlig fremden Kindern zu einer Stufenfahrt aufbrechen, wäre es ratsam gewesen, Einsicht in die Schulakte zu nehmen oder mit dem Klassenlehrer bzw. der Schulleiterin über gesundheitliche Besonderheiten einzelner Kinder zu sprechen. Auch die Schulleiterin, die über Emilys Diabetes informiert war, hätte die vier Lehrkräfte informieren können, von denen sie wusste, dass sie nicht in Emilys Klasse unterrichteten. „All dies wäre den Beteiligten ohne nennenswerten Aufwand möglich und auch zumutbar gewesen“, findet Steffen. Dass sie dies unterlassen haben, „bekräftigt den gegen sie erhobenen Fahrlässigkeitsvorwurf“, heißt es in der Beschwerdebegründung.

Daneben bemängelt der Anwalt, dass im Vorfeld – anders als bei Klassenfahrten sonst üblich – keine schriftlichen Erklärungen zu Vorerkrankungen, Allergien etc. von den Eltern eingeholt wurden. Es habe lediglich einen Elternabend gegeben, bei dem als eines von 19 Themen auch „gesundheitliche Besonderheiten“ der mitreisenden Kinder auf der Tagesordnung standen.

Aus dem Protokoll des Abends sei weder ersichtlich, welche Erziehungsberechtigten überhaupt anwesend waren, noch ob jemand Angaben zu gesundheitlichen Besonderheiten einzelner Kinder gemacht hat. Für Steffen ist klar: Hätte es einen schriftlichen Fragebogen zu gesundheitlichen Besonderheiten gegeben, hätten die vier Beschuldigten bereits vor der Reise nach London von Emilys Diabetes gewusst.

Lehrkräfte hätten dem ersten Hinweis nachgehen müssen

Der zweite Punkt der Beschwerdebegründung betrifft das Verhalten der Beschuldigten während der Klassenfahrt selbst. Die Aussagen von Emilys Mitschülerinnen, dass die vier Lehrkräfte erst gar nicht und dann nur flüchtig nach dem Mädchen gesehen haben, bezeichnet der Anwalt als „insgesamt glaubhaft und nicht widersprüchlich“. Als Aufsichtspersonen hätten die Lehrkräfte bereits dem ersten Hinweis nachgehen und ärztliche Hilfe holen müssen: „Es hätte sich ja auch – ganz unabhängig von Emilys Diabetes – um eine plötzlich aufgetretene schwerwiegende Erkrankung wie einen Blinddarmdurchbruch oder Ähnliches handeln können!“ Stattdessen überließen die Lehrkräfte die Aufsicht über Emily, die in ihrem Zustand nicht an den Ausflügen teilnehmen konnte, ihren gleichaltrigen Freundinnen.

Mit ihrem Verhalten hätten die Lehrkräfte im übrigen auch gegen ihre Verpflichtung verstoßen, bei einer Klassenfahrt unverzüglich die Eltern zu benachrichtigen und einen Arzt zu verständigen, wenn ein Schüler oder eine Schülerin über körperliche Beschwerden klagt.

Ebenso hätten Schülerinnen und Schüler nicht ohne Aufsichtsperson in der Unterkunft verbleiben dürfen. „Wäre eine Lehrperson bei Emily geblieben, hätte sie bei genügender Aufmerksamkeit darauf gedrängt, rechtzeitig – jedenfalls vor dem 29.06.2019 – einen Arzt zu holen“, folgert der Anwalt.

Der ehemalige Richter ist zuversichtlich, dass seine Beschwerde zur Wiederaufnahme der Ermittlungen führen wird – wenn nicht durch die zuständige Staatsanwaltschaft Mönchengladbach, dann durch die nächsthöhere Instanz, die Generalstaatsanwaltschaft. Bis dahin wird Kay Schierwagen weiterhin jeden Tag nach seiner Schicht als Lkw-Fahrer zum Grab seiner Tochter fahren: „Man sagt ja, dass die Zeit alle Wunden heilt. Doch diese Zeit ist für mich noch nicht gekommen. Ich möchte lückenlose Aufklärung.“

Medical-Tribune-Recherche

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