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Wie Demenz eine Familie auf den Kopf stellt

Autor: Dr. Cornelia Tauber-Bachmann

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MT-Kolumnistin Dr. Cornelia Tauber-Bachmann zu den Nöten der Angehörigen.

Ängstlich besorgt sitzt mir die Frau Ende 60 in meinem Sprechzimmer gegenüber. Ihr fehle ja nichts, aber ich solle doch mal nach ihrem Mann schauen! Der habe am Montag seinen Arzttermin und er sei in letzter Zeit so vergesslich geworden. Das mache ihr Sorgen. Er vergesse Termine, Besorgungen, ja, sogar die Einkaufszettel, die sie ihm schreibe. Außerdem käme er ihr so verändert vor: Er reagiere aggressiv, wenn sie ihn darauf anspreche.


Selbstverständlich verspreche ich der Patientin, mir ihren Mann „anzuschauen“ – und er vergisst tatsächlich seinen Termin bei mir am Montag, obwohl ihm seine Frau nach eigener Auskunft einen Zettel geschrieben hatte. Als er dann am darauffolgenden Freitag in meinem Sprechzimmer sitzt, bin ich schon auf alles gefasst.

Kein Ruhestand wegen der teuren Pflege

Im Gespräch macht der Mann einen absolut geordneten, gut gestimmten Eindruck. Auch die in den Zeiten seiner Berufstätigkeit  immer wieder aufgetretenen, leichten depressiven Verstimmungen konnte ich nicht mehr feststellen. Nein, er ist ausgeglichen, ruhig und stimmungsmäßig unauffällig. Auch in den üblichen Demenztests lässt sich nicht einmal der Hauch eines „mild cognitive impairment“ feststellen: Für einen Mann von Anfang Siebzig hat er überall die Top-Punktzahl. Lediglich sein Blutzucker und das HbA1c sind erhöht, weil er – wie früher auch schon öfters – an seiner Insulindosis selbstständig herumprobiert und das Langzeitinsulin zuletzt einfach um 10 IE reduziert hat.


Freimütig, nicht ohne Stolz erzählt mir der Patient, dass er seine – ihn zeitweise doch sehr bedrückenden – finanziellen Probleme inzwischen in den Griff bekommen habe. Zwei Niedriglohnjobs bessern inzwischen seine Rente auf. Und die Tätigkeiten machten ihm obendrein  noch Spaß. Er hat Kontakt zum Personal in den Betrieben und v.a. auch zu jüngeren Leuten. Sogar die finanzielle Versorgung seiner schwer dementen  Schwiegermutter im Pflegeheim kann er jetzt „stemmen“!


Für seine Frau sei „das mit der Schwiegermutter wohl das Hauptproblem“, erzählt er weiter. So leide seine Frau sehr darunter, dass ihre eigene Mutter sie nicht mehr erkenne. Nach jedem Besuch sei sie traurig und deprimiert, fühle sich aber als gute Tochter verpflichtet weiterhin ihre Mutter zu besuchen, obwohl die wahrscheinlich gar nichts mehr davon habe, berichtet der Mann.


Ja, manchmal ist die Demenz ganz woanders als man sie vermutet! Und welche Auswirkungen sie auf eine sonst intakte und bisher gut funktionierende Partnerschaft hat, kann ich an diesem Beispiel wieder einmal sehen. Statt Garten, Enkelkinder-Besuche und Reisen, kurz, den wohlverdienten Ruhestand zu genießen, müssen sich die zwei älteren Leute wieder in die Zwänge einer Anstellung begeben und hilflos die Veränderungen der schwer dementen Mutter ertragen. Wahrscheinlich können sie beide nicht einmal gut miteinander darüber reden.

Hilflos gegenüber den psychischen Veränderungen

Während unseres weiteren Gesprächs streifen wir auch das Thema Überlastung. Nein, die von den Kindern angebotene finanzielle Unterstützung für die Bezahlung des Pflegeheims will er noch nicht annehmen. Aber mein Recall-Angebot zur regelmäßigen HbA1c-Kontrolle   nimmt er gerne an. Wir vereinbaren einen neuen Termin, zu dem er seine selbst gemessenen Blutzuckertagesprofile und auch die nächtlich gemessenen Werte mitbringt.


Ja, soweit der Mann. Und nun steht noch ein Gespräch mit seiner Frau an – unter Wahrung der Schweigepflicht nicht unbedingt einfach! Für diesen Termin nehme ich mir Zeit. Dabei stellt sich heraus, dass sie am Abend vor dem ersten Gespräch mit mir einen Vortrag über Demenz gehört hat. Dieser Vortrag, vom neurologischen Kollegen gehalten, war sicher sehr informativ. Doch offenbar hatten diese Informationen bei ihr sofort große Ängste ausgelöst – verstärkt durch die Erfahrung mit ihrer Mutter. Und schon projizierte sie ihre Ängs­te offenbar auf ihren Mann ...Wir sprechen über die Veränderungen im Wesen ihrer Mutter, ich biete ihr schriftliche Informationen und die Adresse einer Angehörigen-Selbsthilfegruppe an.


Psychotherapeutische Hilfe oder gar eine Konsultation beim Nervenarzt lehnt die Frau entrüstet ab: Nein, das wäre bei ihr doch nicht nötig! Sie sei völlig in Ordnung!


Ihre Ängste sind natürlich übertrieben, wenn auch in gewissem Maße verständlich. Vielleicht hat sie sogar eine ausgeprägte Angststörung, die gut behandelt werden könnte. Mal sehen, ob sie sich irgendwann überzeugen lässt. Ihr Leben könnte mit Unterstützung so viel angenehmer und lebenswerter sein.

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