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Wie Tablettensucht Menschen zerrüttet

Autor: Dr. Cornelia Tauber-Bachmann

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Was Sucht aus einem Menschen machen kann: MT-Kolumnistin Dr. Cornelia Tauber-Bachmann erkennt manchmal ihre Patienten nicht wieder.

Ich hatte ihn nicht wiedererkannt! Erwartungsvoll sitzt ein deutlich vorgealterter 65-jähriger Patient vor mir. Mit schlurfenden langsamen Schritten hat er zuvor das Sprechzimmer betreten – trotz seiner Kleidung kann ich eine Kachexie erahnen. Er erzählt mir lang und breit, dass ich ihn doch kennen müsse: Vor über 15 Jahren sei er wegen Alkoholabhängigkeit bei mir in der Praxis gewesen, nur ein einziges Mal und ich hätte ihn an die richtige Stelle überwiesen, wie er fand. Er war seinerzeit von seiner Alkoholsucht losgekommen und hatte angeblich nie mehr meiner Hilfe bedurft. Soweit sein aktueller Bericht.


Ich erinnerte mich, dass ich dem Mann nach meiner damaligen therapeutischen Lotsenfunktion gelegentlich beruflich begegnet war. Als Geschäftsmann hatte er immer einen etwas mürrischen, aber durchaus rührigen Eindruck hinterlassen. Während dieser geschäftlichen Begegnungen war er sehr um Distanz bemüht: So vermied er zu zeigen, dass wir uns kannten. Ich konnte das angesichts der Vorgeschichte gut nachvollziehen und war ihm nicht böse.

Mindestens sechsmal pro Tag ein Opioid

Und nun nach fast 20 Jahren: Da sitzt ein greisenhafter Mann, ausgezehrt mit langsamen Reaktionen – körperlichen und psychischen – in meinem Behandlungszimmer. Er hat dünne flusige Haare, tiefe Falten um den Mund und ist nachlässig, ja geradezu schlampig gekleidet. Ich kann den Menschen von damals so gar nicht mit dem Patienten vor mir in Verbindung bringen. Aber Name und Geburtsdatum stimmen mit meinen Computerdaten überein! Nur die Adresse ist neu und er selbst seit einigen Monaten berentet.


Er sei froh, sein Geschäft verkauft zu haben, erzählte er mir. Leider fühle er sich gar nicht wohl. Aber er wolle doch jetzt sein Rentnerdasein genießen, ließ er mich wissen. Es stellte sich heraus, dass er vor 15 Jahren zwar dem Alkohol entsagen konnte, aber leider seit 13 Jahren von diversen Schmerzmitteln, darunter auch einem Opioid, abhängig sei. Den Cocktail aus diversen Mix-Schmerzmitteln und dem zwar in die Kategorie „schwach wirksam“ zählenden Opioid schluckt er mindestens sechsmal pro Tag, so seine Angaben. Auf meine interessierte Frage, wo er denn die Unmengen von Rezepten herbekommen habe, antwortet er vorsichtig: „Von meinem Hausarzt.“


Nun kann ich mir kaum vorstellen, dass ein verantwortungsvoller Kollege oder eine Kollegin über so viele Jahre immer wieder ohne Nachfrage die Rezepte ausgestellt hat. Vermutlich hat der Patient mehrere „Hausärzte“ damit beschäftigt und so seinen Konsum verschleiert. Klar, als Privatpatient hatte er dazu jede Möglichkeit und auch 10 Euro Quartalsgebühr würden einen Süchtigen ja nicht davon abhalten, sich seinen „Stoff“ zu besorgen. Ich bin erschreckt, dass ein medikamentensüchtiger Mensch, der so lange sozial angepasst gelebt und überlebt hat, plötzlich so abgebaut hat.

Ohne Geburtstag hätte ich Ihn nicht wiedererkannt

Die körperliche Untersuchung zeigt außer der Kachexie und einer reizlosen Bauchnarbe nach Appendektomie keine Auffälligkeiten. Neurologisch ist die psychomotorische Verlangsamung und eine gewisse Neigung zur Logorrhö auffällig – allerdings ohne Konfabulationen oder andere psychiatrische Symptome. Bei den Medikamentenspiegeln finden sich zusätzlich noch ein paar Schlaf- und Beruhigungsmittel, deren Konsum der Patient erst auf Nachfrage zugibt.


Er ist enttäuscht, dass ich ihn nicht ambulant entziehen kann. Doch er schluckt dann doch „die Kröte“ mit der Einweisung in die Psychiatrie, wo auch eine neurologische und internistische Abklärung erfolgen soll. Ist es wirklich „nur“ die Sucht, die ihn in diesen desolaten ausgemergelten Zustand gebracht hat?


Nun, ich hoffe auf die Fachkenntnis der neurologischen, internistischen und psychiatrischen Kollegen. Dennoch bin ich erschüttert und mag so recht nicht glauben, was die Tablettenabhängigkeit aus diesem Menschen gemacht hat. Er hat offensichtlich eine sog. Suchtpersönlichkeit und gerät immer wieder in eine Abhängigkeit. Von seinem treuherzig vorgetragenen Wunsch, dass er „von den Tabletten loskommen wolle“, bin ich zwar gerührt, aber ich frage mich: „Wird er es schaffen?“


Inzwischen ist er in der Klinik und ich hoffe, dass er die akute Entgiftung bereits hinter sich hat und schon an den Ursachen seiner Sucht arbeiten kann. Selbstverständlich würde ich ihn künftig gerne in Zusammenarbeit mit einem Suchttherapeuten auch ambulant weiter unterstützen. Bin schon gespannt auf das Wiedersehen. Falls er diesmal wiederkommt.

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