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Wie viel Bürokratie brauchen wir wirklich?

Autor: Dr. Robert Oberpeilsteiner

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Könnte man eine Untersuchung nicht direkt in Euros abrechnen, anstatt in Punkten und Ziffern? Halt! Das wäre viel zu einfach, warnt MT-Kolumnist Dr. Oberpeilsteiner. Bürokratisch verschlüsselt hat das Ganze zudem viel mehr Würde.

Bei einer Befragung durch die Bundes-KV haben 57 Prozent der Ärzte und Psychotherapeuten angegeben, nicht ausreichend Zeit für ihre Patienten zu haben. „Bürokratiebelastung ist nach wie vor einer der wichtigsten Gründe, warum sich Ärzte und Psychotherapeuten nicht niederlassen wollen“, konnte man dazu in aerzteblatt.de lesen.


Eigentlich wollte ich mich darüber nicht aufregen. Denn wenn ich mich über etwas aufrege, muss irgendwie der Frust raus und meine Sicht der Welt drängt ungestüm ans Licht. Nun ist aber über Bürokratie zu schreiben ungefähr so spannend wie eine Weihnachtsfeier im Altersheim.


Erinnern Sie sich noch an Euroschecks? Diese blassblauen Papierchen, deren Rand so scharf war, dass man sich damit leicht in die Finger schnitt. Für mich war es, um es leicht verständlich auszudrücken, der bürokratische „worst case“, in einer italienischen Bank mit einem Euroscheck Lire einzutauschen.


Die Italiener waren uns nämlich in Sachen Bürokratie damals noch um Längen voraus. Am ersten Bankschalter musste man sich anstellen, um ein Formular mit vielen Durchschlägen zu erhalten. Am nächsten wurde dieses unter Kontrolle des Personalausweises wieder entgegengenommen und danach durfte man sich drittens in einer Schlange an der Kasse einreihen für die Auszahlung der Lire. Ich hatte mich daran gewöhnt. Und für die Kinder gehörte es einfach zum richtigen Urlaub, gleich nach der Grenze eine halbe Stunde im Auto ungestört streiten zu können. Hinterher gab’s dazu auch noch regelmäßig Eis.

»Wie wäre das, wenn das EKG mit Euro abgerechnet würde?«

Das waren noch Zeiten. Noch kein Computerleuchten am Horizont zu sehen. In der Praxis benutzte man Abrechnungsscheine, auf die man per Hand die Abrechnungsziffern schrieb. Am Quartalsende wurden sie nach Krankenkassen geordnet, banderoliert und an die KV versandt. War die Krakelei unleserlich, so bekam man einen Anruf oder den Abrechnungsschein zugeschickt, mit der Bitte um Richtigstellung. Ja, so war das mal.


Mag ja sein, dass mein Bürokratieverständnis, beruhend auf den alten Italienurlauben, etwas überholt ist. Doch unsere zunehmende Bürokratie wird nicht nur für mich immer mehr zum Ärgernis. In der Praxis besteht ihre größte schöpferische Leistung offenbar darin, unseren Alltag so genial zu verschlüsseln, dass wir zum Auslesen eine Dechiffriermaschine brauchen.


Das System heißt, wie wir wissen, EBM. Damit dessen Code nicht zu leicht geknackt werden kann, müssen von Zeit zu Zeit Änderungen vorgenommen werden. So wie kürzlich erst. Die Neuverschlüsselung nennen sie Reform. Zum Schluss brauchen wir schließlich wieder die Bürokraten: Damit jemand den Sinn des Ganzen begreift.


Vermutlich sehen die Schöpfer des EBM das anders: Wie würde das denn aussehen, wenn plötzlich ein EKG einfach in Euro und Cent abgerechnet würde! Unsere Arbeit würde an Bedeutung verlieren. Wäre irgendwie würdelos. Daher müsste man sie zum Ausgleich logischerweise besser bezahlen. Jedes Jahr so eine kleine Erhöhung, wie es in jedem Tarifkampf üblich ist, würde uns daher sicher trösten.


Das spart man sich jetzt einfach, indem man mit einem undurchdringlichen Ziffernsalat sagt: „Hey, ihr seid ja so wichtig für uns, dass wir dafür bei der Abrechnung einfach nicht die richtigen Worte finden können. Aber ihr müsst doch anerkennen, welchen Stellenwert wir eurer Arbeit beimessen, wenn wir uns solche Mühe geben, sie zu verschlüsseln. Das macht man doch nur mit Sachen allererster Priorität!“

»Jede Herrschaft braucht Zuchtmittel«

Dieses spröde Thema hat aber noch einen weiteren Aufreger. Und das ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Bürokratie: „Herrschaft der Verwaltung“. Hat man dies erst einmal richtig gecheckt, dann werden manche Ungereimtheiten unserer Standespolitik auf einen Schlag verständlich! Bei mir ist dies leider erst nach einem Vierteljahrhundert Praxis in der richtigen Gehirnhälfte angekommen.


Herrschaft braucht immer auch Untertanen und Zuchtmittel. Wir haben schon lange kein Gespür mehr, was uns zumutbar ist. Wir sind einfach froh, wenn wir wieder mit einem neuen Regelwerk klarkommen. Nicht zu viel denken wir dabei über Sinn und Unsinn nach. Wir haben nicht die Zeit, denn wir müssen ja die neuen Ziffern lernen, beziehungsweise das Software-Update zum Laufen bringen.


Schon sind wir beschäftigt und kommen auf keine revolutionären Ideen mehr. Und schließlich gibt es noch den Regress als Peitsche. Das funktioniert perfide gut. Wir haben längst gelernt, bloß nicht aufzufallen. Bloß innerhalb von Standards bleiben, auf die wir keinen Einfluss haben, weil sie für uns dank demografischer Entwicklung, Marktinteressen, Kassenverträgen und Sorge um die Patienten längst nicht mehr nachvollziehbar sind.


Wie viel Bürokratie brauchen wir also? Antwort: Keine. Wir brauchen lediglich eine Verwaltung, die gut mit uns zusammenarbeitet und mit der wir gut können. Anders klappt das nie. Sonst können wir auch gleich die Euroschecks wieder einführen. Hinterher gibt’s dann wenigs­tens jedes Mal ein Eis.

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