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96 Tage pro Praxis für das Erfüllen bürokratischer Pflichten

Autor: Cornelia Kolbeck, Foto:

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Mehr als 2800 Überweisungen, 600 AU-Bescheinigungen und 300 Heilmittelverordnungen werden im Schnitt jährlich pro Praxis ausgestellt. Das ist nötig. Doch eine Analyse des Normenkontrollrates (NKR) zeigt: Es gibt auch viel unnötige Bürokratie und 20 Handlungsoptionen.

Wie Dr. Johannes Ludewig, der Vorsitzende des NKR, eines Beratungsgremiums der Bundesregierung, zum Abschluss des Projekts „Mehr Zeit für Behandlung“ bekannt gab, entstehen in deutschen Praxen Bürokratiekosten von insgesamt 4,33 Mrd. Euro pro Jahr. Sie ergeben sich durch die Umsetzung von 40 Informationspflichten aus dem Zuständigkeitsbereich des Bundes (1 Mrd. €), 298 Pflichten aus der gemeinsamen Selbstverwaltung für Vertragsärzte (2,2 Mrd. €) und 33 Pflichten aus der Selbstverwaltung für Zahnärzte (1,1 Mrd. €). Rein rechnerisch bedeutet dies, dass in jeder Praxis eine Arbeitskraft 96 Tage pro Jahr ausschließlich mit der Erfüllung dieser Aufgaben beschäftigt ist und dieses pro Tag 134 € kos­tet. Die Aussagen beruhen u.a. auf Befragungen von 353 Praxen.

 

Deutlich wurde allerdings auch, dass das Ausstellen von Überweisungen (295 Mio. €), die Abrechnung nach EBM und BEMA (451 Mio. €) und das Verschreiben von Arzneimitteln (460 Mio. €) zu den teuersten Pflichten gehören, was allerdings aus der Menge an Leistungen resultiert und nicht aus dem hohen Aufwand pro Einzelleistung. Dass sich hier nichts ändern lässt, darüber waren sich alle Beteiligten einig. Für insgesamt 17 solcher Informationspflichten – zehn davon aus dem BMG-Bereich – wurden keine unmittelbaren Alternativen gesehen. 24 Pflichten wurden zudem zurückgestellt, weil sie u.a. bereits Teil von Verhandlungen in der Selbstverwaltung sind, wie die Verordnung von Hörhilfen oder die Verordnung stationärer Krankenhausbehandlung.

„Es gibt nicht nur eine gefühlte Belastung“

Letztlich wurden vom NKR und seinen Arbeitspartnern 20 Abläufe und Prozesse im Praxisalltag definiert, die optimiert werden könnten. Mitgearbeitet an der im Dezember 2014 begonnenen Auswertung der Daten und der Entwicklung von Handlungsfeldern haben die KVen aus Westfalen-Lippe, Niedersachsen, Bayern und Nordrhein sowie Krankenkassen und Zahnarztverbände.

„Wir können zum ersten Mal zeigen, dass es nicht nur eine gefühlte Belastung durch zu viel Bürokratie gibt“, sagte KBV-Vorstand Regina Feldmann. Es sei auch deutlich geworden, dass die größte Belastung nicht durch medizinische Dokumentation oder durch Maßnahmen der Qualitätssicherung entstehe, sondern dort, wo Kostensteuerung eine Rolle spiele.

Neue Formulare zunächst regional erproben

Die Vorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Dr. Doris Pfeiffer, gab zu bedenken, dass der Schätzcharakter der Daten hoch ist. Die Abgrenzung der medizinischen Behandlung von der Informationspflicht bezeichnete sie als kaum lösbares Problem. Der Bericht könne deshalb nicht das Belastungsvolumen insgesamt kalkulieren und auch nicht als Basis für Vergütungsverhandlungen dienen. Sie lobte die Arbeit des NKR, erklärte aber auch, dass die meisten unnötigen Vorgaben in der Selbstverwaltung beschlossen wurden und nun alle zusammen die Verantwortung für eine schlanke Verwaltung übernehmen müssten.

Dr. Thomas Kriedel, Vorstandsmitglied der KV Westfalen-Lippe, sprach sich dafür aus, neue Formulare erst einmal regional zu testen. Dann zeige sich bürokratischer Ballast. „Ich frage mich, wie ein Hausarzt das leisten soll“, sagte er in Bezug auf die neue Krankenhauseinweisungsrichtlinie, nach der vor jeder stationären Einweisung alle ambulanten Behandlungsalternativen in Erwägung gezogen werden sollen.

Ein neues Bürokratiemonster: die Einweisungs-Richtlinie

KBV-Vize Feldmann bestätigte die Skepsis. Dies werde erheblich Bürokratie in die Praxen bringen, es sei „der Super-GAU für jede Hausarztpraxis“. Sie hofft deshalb noch auf eine Änderung.

Zwölf der von allen Beteiligten im Konsens beschlossenen Handlungsempfehlungen für den Abbau von Verwaltungsaufwand betreffen Arzt- und Psychotherapeutenpraxen. Sie reichen von der Vereinheitlichung der Vordrucke bei Anfragen durch Kassen und MDK über die Zusammenführung von Formularen bei der Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit bis zu Erleichterungen durch IT-Nutzung. Der Projektverantwortliche, NKR-Vize Wolf-Michael Catenhusen, sieht das Entlastungspozential insgesamt im dreistelligen Millionenbereich.

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