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Pflege: Millionenschwere Betrügereien

Autor: Cornelia Kolbeck, Foto: thinkstock, fotolia/K.-U. Häßler

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Der Sozialstadtrat von Berlin-Mitte, Stephan von Dassel, lässt seit einiger Zeit seine Mitarbeiter genauer prüfen, ob Pflegezuschüsse wirklich gebraucht werden. Aufgedeckt wurde dabei Betrug im großen Stil.

Im Januar dieses Jahres lagen, unter anderem ausgelöst durch Hinweise vom Sozialamt, bei der Staatsanwaltschaft Berlin 223 Anzeigen wegen Verdachts auf Pflegebetrug vor. Sie richten sich gegen 154 Unternehmen. Jeder vierte der in Berlin agierenden rund 600 Pflegedienste steht somit im Fokus strafrechtlicher Ermittlungen. In 95 % der Fälle geht es um private, gewinnorientierte Einrichtungen.

Die sechs Prüfer vom Sozialamt schauen sich Fälle an, bei denen im Rahmen der Sozialhilfe ambulante „Hilfe zur Pflege“ (HzP) geleistet wird, weil die vorrangig zuständige Pflegekasse dafür nicht zahlt. Sie – selbst ausgebildet in der Pflege – begutachten die Patienten im häuslichen Umfeld, sie sprechen mit Angehörigen und Nachbarn, suchen nach Auffälligkeiten. Auch wenn bei der Rechnungsprüfung Monat für Monat immer alle bewilligten Leistungen abgerechnet werden – ohne z.B. Ausnahmen aufgrund des individuellen Befindens der Patienten, Kur oder Kurzzeitpflege zu berücksichtigen –, erregt das den Verdacht der Prüfer. Gleiches passiert, wenn ärztliche Atteste und Diagnosen immer gleichlautend sind.

Kraft-, orientierungs- und antriebslos? Pustekuchen!  

Manchmal warten die Amtsermittler auch vor der Haustür und gelegentlich lohnt sich das auch. Frau G. beispielsweise erhielt seit 2008 Leistungen, weil sie nach der Erst­einschätzung der Pflegegutachter des Sozialamtes kaum alleine stehen konnte, orientierungslos, antriebslos und kraftlos war und nachts nicht alleine die Toilette aufsuchen konnte. Tatsächlich war sie – wie später im Foto festgehalten – ganz mobil. Sie konnte problemlos mit der Einkaufstasche die Treppen der U-Bahn hochlaufen und dabei auch noch telefonieren.

Heute Rollator, morgen Auftritt als Kabarettist

Oder Herr K.: Vor Ort fanden ihn die Kontrolleure mit einer Wollmütze auf dem Bett sitzend, orientierungslos und dement. Dem 70-Jährigen, der nur Russisch sprach, gelang es nur mühsam, sich mit dem Rollator fortzubewegen. Für die Kontrolleure war die Sache klar: Die Leistungen sind gerechtfertigt. Doch dann fanden sie bei einem zweiten, unangemeldeten Besuch und weiteren Recherchen heraus, dass der Ukrainer nicht nur seine Einkäufe selbst per Fahrrad erledigte. Er war zudem politisch aktiv und hielt Reden – auf Deutsch. Auch besitzt er eine Zulassung als Arzt. In seiner Wohnung fand die Polizei einen Behandlungsraum mit Massageliege.

In anderen Fällen waren Schwerstpflegebedürftige auf Kreuzfahrt oder zwei Wochen in der Türkei auf Reisen. Einer trat gar putzmunter im Kabarett Odessa in Berlin auf, gefunden in einem YouTube-Video. „Das Internet vergisst nicht“, sagt von Dassel zufrieden.

1012 Fälle wurden allein im letzten Jahr durch die Pflegefachkräfte überprüft. Im Ergebnis der Begutachtung der Neu- oder Verlängerungsanträge sowie durch Rückforderungen konnte das für 2014 im Haushalt eingestellte Budget von 30 Mio. Euro um mehr als sechs Mio. Euro unterschritten werden. Offenbar hat dazu auch beigetragen, dass die Pflegedienste wegen der Ermittlungen des Sozialamts und eines Fernsehberichts über Recherchen des Journalisten Günther Wallraff beim Berliner Pflegedienst „An der Urania“ vorsichtiger geworden sind.

Besuch bei 7 Patienten, bei 223 Leistungen abgerechnet 

Von Dassel geht davon aus, dass bei ausreichendem und gut geschultem Personal die Sozialbehörden bundesweit mindestens zwei Milliarden Euro einsparen könnten. Einsparungen der Pflege- und Krankenkassen noch nicht mitgerechnet.

Ein Drittel aller Pflegedienste in Berlin-Mitte ist inzwischen in russischer Hand, das heißt, Eigentümer, Geschäftsführung, Pflegepersonal und Klienten stammen aus dem russisch-sprachigen Raum. „Bei 80 % dieser Anbieter fanden wir handfeste Belege für unseriöses Arbeiten“, sagt von Dassel. Die Auswertung der bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmten Unterlagen eines Pflegedienstes hat z.B. ergeben, dass an einem Tag nur sieben Klienten aufgesucht wurden, abgerechnet worden waren Leistungen an 223 Personen.

Interessanterweise sind speziell diese russischen Dienste oft nur kurz auf dem Markt und nach dem Verschwinden tauchen sie bald unter anderem Namen wieder auf. Als Grund vermutet der Stadtrat, dass Prüfungen von Steuern und Sozialabgaben bei Neugründungen nicht so restriktiv erfolgen wie bei älteren Unternehmen. Bevor etwas auffällt, sind die Unternehmen somit schon wieder verschwunden.

Dass die vom Sozialamt vorgetragenen Fälle nicht immer konsequent juristisch verfolgt werden, ärgert von Dassel. Er bedauert, dass Staatsanwälten, denen Fälle nach Anfangsbuchstaben der Täter und nicht nach Delikten sortiert vergeben werden, oft die nötige Sachkenntnis für Zusammenhänge fehlt.

Staatsanwaltschaft für Pflegedelikte muss her

Deshalb fordert er eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Pflegedelikte. Zudem spricht er sich für eine Vernetzung aller Kostenträger aus, um den Ausschluss unseriöser Pflegedienste zu erleichtern. Auch eine Pflicht für Pflegedienstbeschäftigte, ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen zu müssen, würde er begrüßen.

Ärzten empfiehlt der Sozialstadtrat dringend, vor der Ausstellung von Attesten genauer hinzuschauen und nicht aus Gefälligkeit etwas zu verordnen. Bei Verdachtsmomenten sollten Ärzte das Amt informieren: „Das geht auch anonym.“  

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