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Richtgrößenprüfungen haben keine Zukunft

Autor: RA Jörg Hohmann, Foto: Thinkstock

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Richtgrößenprüfungen haben für Vertragsärzte in den letzten Jahren an Schrecken verloren. Es gibt jedoch bis heute ungelöste Umsetzungsprobleme.

Die Richtgrößenprüfung ist im § 106 SGB V geregelt. Diese Norm wurde häufig überarbeitet. Sie umfasst über 3000 Wörter und bleibt für viele Leser unverständlich.


So war z.B. fraglich, wie der Grundsatz „Beratung vor Regress“ umzusetzen ist.

Nach § 106 Absatz 5e muss bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % eine Beratung erfolgen. Ein Regress kann also erst für einen Zeitraum nach einer erfolgten Beratung festgesetzt werden.

Gesetzgeber: Beratungsregel auch für noch offene Verfahren

Im Oktober 2012 stellte der Gesetzgeber klar, dass dies auch für Verfahren gilt, die am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossen waren.

Hierzu entschied das Landessozialgericht NRW im November 2013, dass dies nicht für Verfahren vom 1.1.2012 bis 26.10.2012 gelten kann, weil diese Klarstellung erst mit ihrem Inkrafttreten Wirkung entfaltet.

Erste Richtgrößen-Überschreitung überhaupt oder ab welchen Stichtag?

Nach Ansicht des LSG-Senats ist auch nicht „erstmalige Überschreitung seit Inkrafttreten der Regelung, sondern erstmalige Überschreitung überhaupt“ gemeint.

Ganz gegensätzlich hatte das LSG Baden-Württemberg im Februar 2013 entschieden. Aus der Gesetzesbegründung ergebe sich nicht, dass die Beratungspflicht nur bei grundsätzlich erstmaliger Überschreitung gelten soll. Das Gesetz müsse so verstanden werden, dass ein Regress eine vorherige Beratung erfordere.

Gericht: Richtgrößen sind nach Altersgruppen zu bestimmen 

Strittig ist auch die Ausgestaltung der Richtgrößen. So urteilte das Sozialgericht Dresden im Dezember 2013, dass die Prüfungen schon deshalb rechtswidrig seien, weil die Richtgrößen nicht nach altersgemäß gegliederten Patientengruppen erfolgten.

Die sächsischen Richtgrößen unterscheiden nur zwischen Mitgliedern, Familienversicherten und Rentnern. Der Gesetzgeber fordert allerdings seit 2002, die Richtgrößen nach Altersgruppen zu bestimmen. Das wurde jedoch allein von den Kassenärztlichen Vereinigungen in Thüringen und Bayern umgesetzt.

Nach Auffassung des Gerichts sind die regionalen Vertragspartner seit spätestens 2004 verpflichtet, die Richtgrößenprüfung nach Altersklassen zu differenzieren. Kassen und KVen hätten eine entsprechende Datenübermittlungspflicht.

Praxisbesonderheiten - auf welche Daten kommt es an?

Umstritten ist auch, wie Praxisbesonderheiten zu berücksichtigen sind. Das LSG Berlin-Brandenburg schrieb im Juni 2012 den Prüfgremien ins Heft, dass sie die Ärzte darauf aufmerksam machen müssen, welche Daten von diesen beizubringen sind und anhand welcher Kriterien und Maßstäbe die Praxisbesonderheiten überprüft werden.

Amtsermittlungspflicht bei Praxisbesonderheiten

Auch das Bundessozialgericht unterstrich im Juni 2013: Die Prüfgremien haben eine Amtsermittlungspflicht hinsichtlich atypischer Verordnungsfälle. Da sie über Daten des zu prüfenden Arztes und der Vergleichsgruppe verfügten, müssten sie Abweichungen nachgehen und mit dem Arzt die Gründe diskutieren.

Weil ein solches Vorgehen seitens der Prüfgremien nicht transparent umgesetzt wurde, erklärte das LSG Sachsen-Anhalt am 15.1.2014 die Richtgrößenprüfungen 2001 für rechtswidrig. Die Entscheidung wirkt sich auch für die Folgejahre in Sachsen-Anhalt aus.

Geteilte Auffassungen gibt es auch darüber, wer eine Regress ablösende Individualvereinbarung erhält. Ein Urteil des Sächsischen LSG, bei dem ein Arzt leer ausging, wurde vom BSG im August 2013 kassiert.

Mit dem Beschwerdeausschuss über individuelle Richtgröße verhandeln

Nach § 105 Abs. 5d Satz 1 SGB V hat der Vertragsarzt einen wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens verhängten Regress nicht zu zahlen, soweit die Prüfungsstelle mit ihm eine individuelle Richtgröße vereinbart (IRV), die wirtschaftliches Verordnen unter Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten sicherstellt.

Hierbei verpflichtet sich der Arzt, ab dem Quartal, das auf die IRV folgt, jeweils den sich aus einer Überschreitung dieser Richtgröße ergebenden Mehraufwand den Krankenkassen zu erstatten.

Der Beschwerdeausschuss hatte sich für eine IRV unzuständig gefühlt, weil bereits ein Regress festgesetzt war. Doch laut BSG muss der Ausschuss über eine IRV verhandeln, wenn der Arzt dies verlangt.

Prüfgremien sind zwar nicht verpflichtet, dem Vertragsarzt von sich aus den Abschluss einer IRV anzubieten oder hierauf hinzuwirken. Gemäß BSG müssen aber auch noch vor dem Beschwerdeausschuss Verhandlungen möglich sein. Andernfalls könnten die Prüfstellen die Option einer IRV unterlaufen, indem sie früh einen Regress festsetzen.

Je nach KV unterschiedliche Pauschalabzüge für Rabatte

Umstritten und ungelöst ist ferner die Frage der Berücksichtigung von Arzneirabatten nach § 130a SGB V. Die Rabatte werden im Regelfall nicht offengelegt und die Prüfgremien erhalten keine Angaben, in welcher Höhe sie beim jeweiligen Arzt zu berücksichtigen sind.

Bereits 1997 entschied das BSG, dass nur Regresse zu zahlen sind, die auch tatsächlich nachgewiesen werden. Nach Auffassung der KV Bayerns, die seit 2009 aus diesen und anderen Gründen keine Richtgrößen mehr vereinbart hat, kann weder das Ausgabenvolumen der Fachgruppe zur Berechnung von Richtgrößen noch das individuelle Ausgabenvolumen des Arztes zur Festlegung der Überschreitung von Richtgrößen bestimmt werden.

Einige Kassenärztlichen Vereinigungen haben in ihren Prüfvereinbarungen einen Pauschalabzug vereinbart. Dieser reicht je nach KV von 2 % bis zu 25 %. Das widerspricht dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Die zumeist überregional geltenden Rabattverträge rechtfertigen keine derart unterschiedliche Behandlung.

KV und Kassen sollen regionale Lösungen finden

Diese Auswahl an Umsetzungsproblemen zeigt, dass die Prüfverpflichtung im Gesetz nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Der Gesetzgeber plant eine Ausweitung des Grundsatzes „Beratung vor Regress“ auf alle Prüfarten und -situationen, will die Handhabung jedoch den regionalen Partnern überlassen. Die Zeit der Richtgrößenprüfungen im Arznei-Bereich scheint vorbei zu sein. 

 

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