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Dezentrales System der Praxen in Deutschland macht den Unterschied in der Pandemie

Niederlassung und Kooperation Autor: Michael Reischmann

Das Gros der positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Menschen wird hierzulande von Hausärzten betreut. Das Gros der positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Menschen wird hierzulande von Hausärzten betreut. © iStock/wenjin chen
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Die Niedergelassenen schützen während der Coronapandemie nicht nur die Kliniken vor Überlastung. Sie sind auch der Schutzwall, der die Patienten vor der Infektionsgefahr in den Kliniken bewahrt. Diesen Eindruck hat der Gesundheitsweise Prof. Dr. Ferdinand Gerlach gewonnen.

Welche mittel- und langfris­tigen Lehren lassen sich aus der ersten Phase der Coronakrise ziehen? Im Auftrag des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung, der Bertelsmann Stiftung und der Robert Bosch Stiftung haben vier Wissenschaftler ein „Richtungspapier“ erstellt und ihre Botschaften auf YouTube präsentiert. 

Dass Deutschland vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie gekommen ist, führt Allgemeinmediziner Prof. Gerlach auf unser dezentrales ambulantes System zurück, in dem das Gros der positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Menschen von  Hausärzten betreut wird. Nur 6 bis 7 % der positiv Getesteten müssten stationär behandelt werden. In der ersten Welle waren es maximal 13 %. Jedenfalls viel weniger als in anderen europäischen Ländern.

Telemonitoring und mobile Teams erproben

Nun seien aber Krankenhäuser „infektiologisch gefährliche Orte“. In Ländern mit einer krankenhauszentrierten Versorgung hätten sich viele Menschen gerade dort infiziert. Der Rettungsdienst habe das Virus dann von Krankenhaus zu Krankenhaus transportiert, erklärt der Vorsitzende des Sachverständigenrats für das Gesundheitswesen. So wurden z.B. in Frankreich im April mehr als 80 % der Testungen an Krankenhäusern durchgeführt – was die Infektionsgefährdung unnötig erhöhte.

Prof. Gerlach rät, den ambulanten Bereich in den Pandemieplänen besser abzubilden. Bezüglich der zuverlässigen Bereitstellung ausreichender, geeigneter Schutzkleidung und in puncto durchdachte Teststrategie mit einem Fokus auf der dezentralen, ambulanten Probenentnahme seien die Pandemiepläne bislang unzureichend gewesen.

Vielleicht könnten auch Menschen von mobilen Teams zu Hause getestet und Patienten telemedizinisch überwacht werden, um eine Krankenhausunterbringung erst einmal zu vermeiden. Das sollte in Studien kurzfristig überprüft werden. Video­behandlungen und telefonische Krankschreibungen sollten in geeigneten Fällen als Teil der Routineversorgung dauerhaft verstetigt werden.

Professor Dr. Reinhard Busse, der Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin lehrt, unterstreicht die Sinnhaftigkeit, die finanzielle Förderung auf jene 400 Krankenhäuser der Notfallstufen 2 und 3 zu konzentrieren, die personell und technisch in der Lage seien, eine adäquate Patientenversorgung zu gewährleisten. Während der ers­ten Pandemiewelle sei das Geld fürs Freihalten von Betten an alle Krankenhäuser ausgeschüttet worden. Dabei wurden fast alle stationären Fälle in nur 500 Einrichtungen betreut. Die meisten beatmeten Patienten befanden sich in 350 Kliniken.

Ganz grundsätzlich empfehlen die Autoren des Richtungspapiers, Mittel und Aufgaben zu konzentrieren. So sollten z.B. nur diejenigen Krankenhäuser die Behandlung von Schlaganfallpatienten abschlagsfrei vergütet bekommen, die eine Stroke Unit haben. Ebenso sollte nur denen die Herzinfarktversorgung bezahlt werden, die ein Herzkatheterlabor haben. „Etwa 20 % der Patienten landen derzeit in Krankenhäusern, wo sie nicht adäquat behandelt werden können“, sagt Prof. Busse. Dabei gehe doch „Qualität vor Nähe“.

Notfälle in geeignete Krankenhäuser fahren

Eine Analyse des Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) bestätigt für AOK-Versicherte, die in der ersten Lockdown-Phase als Notfälle in Krankenhäusern behandelt wurden: 13 % der Patienten mit Hirninfarkt oder Hirnblutung wurden in einer Klinik ohne Stroke Unit versorgt (2018: 17 %). Und die Behandlung von 7 % aller STEMI- und NSTEMI-Patienten erfolgte in Kliniken ohne Herzkatheterlabor (2018: 10 %). „Wir brauchen eine stärkere Konzentration der Notfallversorgung auf Kliniken mit entsprechender Ausstattung und Erfahrung“, betont WIdO‐Geschäftsführer Jürgen Klauber in einer Pressemitteilung. Weiterhin landeten Notfälle zu oft in Kliniken mit mangelhafter Ausstattung.

Neben finanziellen Anreizen, die der Bund regeln könnte, müssten die Bundesländer über ihre Krankenhausplanungen den Kliniken Versorgungsaufträge erteilen, an die diese sich zu halten hätten – ebenso wie der Rettungsdienst und die Patienten. Zudem sollte die hohe Klinikbettenzahl reduziert werden.  Die Verbände der Leitenden Krankenhausärzte und der Krankenhausdirektoren kritisieren die Vorschläge als Fortsetzung einer Kampagne, mit der die flächendeckende Krankenhausversorgung, „die sich gerade in den vergangenen Monaten bewährt hat“, gefährdet werde. Nach ihren Angaben wird aktuell ein Drittel der beatmeten Patienten in Häusern der Grund- und Regelversorgung behandelt. Mehr als die Hälfte der Kliniken habe sich mit Fieberambulanzen auch an der ambulanten Versorgung von COVID-19-Patienten beteiligt. Die Wissenschaftler geben als ein mittel- bis langfristiges Ziel eine ambulante Betreuung durch „integrierte Versorgungszentren“ samt Haus­ärzten, Therapeuten, Reha-Angeboten, Pflegediensten und -heimen aus. Das Zentrum könne eng mit einem Regelversorgerkrankenhaus vernetzt sein. Besonders im ländlichen Raum sollten dazu sektorenübergreifende Vergütungsmodelle erprobt werden, z.B. mit Regionalbudgets. „Wir könnten die Pandemie besser beherrschen und Krankheiten besser diagnostizieren und behandeln, wenn wir die vorhandenen Daten besser nutzen würden“, meint Prof. Gerlach. Die europäische Datenschutz-Grundverordnung werde hierzulande am restriktivsten ausgelegt. „Falsch verstandener Datenschutz darf kein Tatenschutz sein.“ Konkret nennt er die Corona-Warn-App. Sie sei ein „stumpfes Schwert“ bei der Unterstützung der Kontaktverfolgung durch die Gesundheitsämter, wenn 40 % der Nutzer mit positivem Testergebnis dieses nicht meldeten und unklar bleibe, wann und wo man eine positiv getestete Person getroffen habe. Die Autoren des Richtungspapiers fordern auch, eine umfassende elektronische Patientenakte schnellstmöglich verfügbar zu machen, um die Zusammenarbeit der Versorger zu verbessern. Unter Pandemiebedingungen könne damit Identifikation und Information von Menschen mit erhöhtem Risiko für schwere Verläufe wesentlich zielgenauer und schneller erfolgen. Prof. Gerlach sagt: „Es ist fahrlässig und ethisch bedenklich, wenn man Daten missbraucht, aber es ist auch fahrlässig und ethisch bedenklich, wenn man vorhandene Daten nicht bestmöglich nutzt.“

Public-Health-Perspektive im Medizinstudium schärfen

Dass der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) eine bessere personelle und technische Ausstattung benötige, um Kontaktverfolgung, Anordnung und Kontrolle von Quarantäne sowie das Durchführen von Tests gewährleisten zu können, hat die Poltik erkannt. Um die präventive Versorgung zu stärken, müsse die Public-Health-Perspektive sowohl innerhalb des ÖGD als auch in den Lehrinhalten des Medizinstudiums geschärft werden. Der ÖGD benötige eine bessere Verknüpfung zu Wissenschaft und Primärversorgung. 

Medical-Tribune-Bericht

Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Universität Frankfurt/M. Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Universität Frankfurt/M. © Michael Fuchs, Remseck
Prof. Dr. Reinhard Busse, TU Berlin Prof. Dr. Reinhard Busse, TU Berlin © mig.tu-berlin.de
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