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Dreimal öffentlich Patient gegen Krankenkasse

Kassenabrechnung , Abrechnung und ärztliche Vergütung Autor: Cornelia Kolbeck

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Mit seinen gelben Ziegeln sticht das 1874 erbaute Berliner Sozialgericht in der Invalidenstraße zwischen den Gebäuden gegenüber dem Hauptbahnhof hervor. 37.000 neue Verfahren wurden 2015 registriert, in 11% der Fälle ging es um strittige Angelegenheiten aus der Krankenversicherung.

An einem Mittwoch im Raum 126: „Was für eine Laune hat er heute?“, fragt leise die Anwältin der Klägerin hinüber zur Anwältin der Gegenseite. Beide sind sich nicht sicher. Der Richter, der noch im Hinterzimmer ist, gilt als schwer einzuschätzen. Manche fürchten ihn, auch manche Ärzte, die ihm schon Rede und Antwort stehen mussten.

„Der ist knallhart“, hatte mir einmal ein Mediziner gesagt. Doch ich kenne Michael Kanert schon lange, weiß, er ist nicht unfreundlich, nur sehr sachlich und er benennt Fehlverhalten geradeheraus. Das gefällt halt nicht jedem.

Orthopädin muss Bußgeld für Nichterscheinen zahlen

Drei öffentliche Verfahren stehen heute auf dem Plan: dreimal Patient gegen Krankenkasse. Ich warte wie die Prozessbeteiligten und einige interessierte Referendare auf den Beginn des zweiten Verfahrens.

11:00 Uhr eröffnet der Richter die Verhandlung, links und rechts die beiden Schöffen, oder wie es im Sozialgericht korrekt heißt: die ehrenamtlichen Richter. Die Klägerin leidet unter einer undifferenzierten Kollagenose und Spondylitis psoriatica mit teils schweren Krankheitsverläufen.

In der Hoffnung, die Rücken- und Schulterschmerzen werden geringer, hat sie in kurzer Zeit abgenommen, von über 100 auf rund 60 Kilo. Weil das aber keine Linderung brachte, soll die Kasse nun einer Reduktion der Mamma permagna zustimmen.

Die Kasse aber lehnt ab, weil eine überzeugende Begründung fehlt. Zudem wird argumentiert, dass bei dieser schweren Autoimmunerkrankung Operationsnarben zusätzliche Schmerzen verursachen können.

Als erste Zeugin geladen ist die behandelnde Orthopädin. Sie erscheint nicht. Der Richter unterbricht die Verhandlung und verlässt mit den Schöffen den Raum. Nach wenigen Minuten kommen sie zurück und der Richter verkündet: 500 Euro Ordnungsgeld für die Ärztin.

Arzt wird als Zeuge von der Schweigepflicht entbunden

Nächster Zeuge ist der Rheumatologe, der die Notwendigkeit der Operation bestätigt hatte. Ihm erklärt der Richter, wie später auch dem anderen Zeugen: „Wenn sie etwas sagen, muss es stimmen.“

Hier sei er nicht mehr der an die Schweigepflicht gebundene Arzt, sondern als Zeuge der Patientenseite von der Schweigepflicht entbunden und somit „strafbar bei unvollständiger und vorsätzlich falscher Aussage“. Der Arzt nickt.

Richter will über Therapie ganz genau Bescheid wissen

 „Ist es denkbar, dass die rheumatischen Grunderkrankungen durch die Mamma permagna verstärkt werden?“, will der Richter wissen. Es seien ihm keine Studien dazu bekannt, erwidert der Arzt, aber es sei denkbar. „Haben Sie das Gewicht der Brüste festgestellt?“ „Nein, das ist nicht meine Aufgabe.“

„Hier steht, Ihre Patientin erhält eine multimodale Therapie. Was ist das?“, fragt der Richter weiter. Der Doktor blättert in seiner Patientenakte. „Haben Sie auch Rehasport verordnet?“, bohrt der Richter.

Der Zeuge muss letztendlich eingestehen, dass er seit zwei bis drei Jahren außer Medikamenten nichts verordnet hatte. „Es käme auf einen Versuch an“, meint er zum Rehasport.

Zeuge drei ist ein Professor aus einem Berliner Brustzentrum. „Warum haben Sie nicht auf die Anfragen der Krankenkasse zum Fall geantwortet?“, fragt der Richter. „Weiß ich nicht, das macht meine Sekretärin normalerweise“, erklärt der Arzt forsch.

Seine Aufgabe sei es, die medizinische Indikation festzustellen, und nicht, zu bestimmen, was die Kassen bezahlen sollen. „Wie Sie dem Gutachten hier entnehmen können“, setzt der Professor an und wird sofort unterbrochen.

Der Richter hebt ein Blatt hoch: „Bei Ihrem Gutachten reden wir von dieser halben Seite?“ „Für uns reicht das“, kommt die Antwort. Dem Richter reicht das nicht. Er fragt beim Brustspezialisten nach, wie dieser die Notwendigkeit der Verkleinerung begründet.

Medizinisch überzeugend begründen kann der es nicht. So etwas sei bisher nicht objektiv begründbar darzustellen. Er gehe davon aus, dass pro Seite 500 Gramm von rund 700 Gramm zu reduzieren sind, von 90D auf 90B, um die Symptome zu mindern.

Brüste messen geht nicht, „ist nur eine Schätzung“

„Wie wurden die Brüste gemessen“, fragt der Richter nach. „Das ist eine Schätzung, sie beruht auf meiner Erfahrung“, entgegnet der Arzt. Weitere Fragen zur Auswirkung der Reduktion auf die Schmerzen der Klientin in Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule kann er nicht beantworten. Er verweist auf die Orthopädin.

„Alles nicht schlüssig“, so das Fazit des Richters. Er setzt schließlich ein Headset auf und protokolliert Satz für Satz die Aussagen der Klägerin und der beiden Zeugen. Die Zeugen korrigieren sich, der Richter berücksichtigt das.

Er entlässt die beiden Ärzte. Beim Hinausgehen dreht sich der Professor noch einmal um zum Richter: „Ich bin beeindruckt“, sagt er demütiger als anfangs. Und auch mich als Journalistin beeindruckt die präzise Wiedergabe der Aussagen.

Ärzte können mit ihren Aussagen nicht überzeugen

„Was sagt uns die Verhandlung heute?“, bemerkt Kanert abschließend mit Blick auf die Prozessbeteiligten und die Referendare. „Dass beide Ärzte die notwenigen Informationen nicht liefern konnten.“

Er nimmt zu Protokoll, dass die Orthopädin sowie Vertreter des Medizinischen Dienstes noch als Zeugen zu vernehmen sind. Die Ladung wird für einen Termin in drei Wochen vorgesehen. Ende der Verhandlung ist um 13:05 Uhr.   

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