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Irren und Wirren bei der Fall-Kodierung

Autor: Cornelia Kolbeck

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Durch fehlerhafte Abrechnungen der Krankenhäuser entsteht den Krankenkassen angeblich ein Schaden von 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. Diese Äußerung der Vorsitzenden des GKV-Spitzenverbandes, Dr. Doris Pfeiffer, hat bei Klinikleitungen eine Welle der Entrüstung ausgelöst.

40 % der von den Kassen über den Medizinischen Dienst geprüften Klinikrechnungen hätten sich als zu hoch erwiesen, so Dr. Pfeiffer, dabei würden durchschnittlich rund 1100 Euro zu viel abgerechnet.

Kliniken keine böse Absicht unterstellen

Es entsteht der Eindruck, die Kliniken versuchten zu mogeln. „Das ist schlichtweg falsch, ja sogar böswillig. So sollten Vertragspartner nicht miteinander umgehen“, konterte Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Er verwies darauf, dass die BarmerGEK-Chefin Birgit Fischer im Februar erklärt hatte, man könne den Kliniken wegen des sehr komplizierten Kodiersystems bei Abrechnungsfehlern „keine böse Absicht“ unterstellen.

Der Verbandsdirektor der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft Matthias Einwag erklärte, dass die Vergütung bei der Behandlung eines Patienten auf einer Kombination aus 13 315 möglichen Diagnosen (ICD) und 27 000 möglichen Prozeduren (OPS) resultiere. Bei der Auswahl der passenden Kombinationen gäbe es „naturgemäß unterschiedliche Auffassungen, die dann zu Auseinandersetzungen führen“. Er mahnte auch eine seriöse Betrachtung der Zahlen an: Eine Prüfquote von rund 10 % der Fälle, wobei rund zwei Drittel unauffällig bleiben, bedeute, dass 97 % der Abrechnungen keinerlei Überprüfung bedürften.

Auch wenn den Kliniken im Ergebnis der Prüfungen jährlich rund 600 Mio. Euro (durchschnittlich 440 Euro pro Fall) weggekürzt werden, ist das nach Ansicht der Krankenhäuser noch kein Beweis für eine Schuld oder die Absicht zu Falschabrechnungen. Kliniken seien wegen des unverhältnismäßigen finanziellen und zeitlichen Aufwands bei monatelangen Überprüfungen des MDK sowie gerichtlichen Auseinandersetzungen nicht selten gezwungen, auf berechtigte Forderungen zu verzichten und Kompromisse einzugehen. „Resignation vor rechtlichen Auseinandersetzungen“ nennt es DKG-Geschäftsführer Baum. „Die Krankenhäuser könnten sich das einfach nicht leisten“, bringt es der baden-württembergische Verbandschef Einwag auf den Punkt.

Geprüft wird von den Krankenkassen mittels MDK der Einzelfall nach § 275 (1) Absatz 1 SGB V. Wie eine Umfrage unter deutschen Krankenhäusern im vergangenen Jahr ergab, lag die Prüfquote 2008 bei 11,1 % (www.medinfo.web). Häufigster Prüfgrund war die Verweildauer, gefolgt von der stationären Behandlungsnotwendigkeit. Für Einwag ist es „fast schon absurd“, wenn MDK-Prüfungen ursprünglich eine zu kurze Verweildauer im Sinne des Patientenwohls verhindern sollten, sie nun aber dazu eingesetzt würden, die Verweildauer im Sinne der Kassenfinanzen weiter zu drücken.

Kassen monieren auch längere Verweildauern

87 % der Kliniken gaben eine sekundäre Fehlbelegungsprüfung in Bezug auf die untere Grenzverweildauer (UGV) und 64 % der Häuser bezüglich der oberen Grenzverweildauer (OGV) an. Das heißt, die Krankenkassen zweifelten überwiegend an, ob ein Patient wirklich schon am Tag vor (z.B. einer Herzkatheter-)Untersuchung stationär aufgenommen werden musste oder ob es tatsächlich nötig war, ihn über das von der DRG abgedeckte, statistisch ermittelte Zeitfenster hinaus stationär zu behandeln. Die korrekte Kodierung von Haupt- bzw. Nebendiagnosen wurde nur bei 7 % bzw. 10 % der Kliniken infrage gestellt.

Welche Auswirkungen die MDK-Prüfungen in der Praxis haben, verdeutlicht das Beispiel der Berliner Charité. Die Einrichtung betreut jährlich rund 125 000 stationäre Fälle und 10 000 Fälle in der Tagesklinik. „Monatlich gehen bei uns zwischen 1600 und 2100 Schreiben ein, die eine Einzelfallprüfung ankündigen“, sagt Dr. Ralf Hammerich, verantwortlich für Dokumentation und Kodierung im Geschäftsbereich Unternehmenscontrolling.

Für jeden MDK-Brief wird ein Datensatz angelegt, der u.a. Patientendaten, Prüfgrund und die Daten des Ansprechpartners beinhaltet. „Wir haben dieses Reklamationstool extra entwickelt, um bei rund 100 Reklamationen pro Tag den Überblick zu behalten“, so Dr. Hammerich. Für die Dateneingabe ist speziell geschultes Personal zuständig. Es erfasst im weiteren Verlauf einer Prüfung auch die Korrespondenz mit dem Prüfer sowie gegebenenfalls mit Gutachtern und Richtern.

300 Euro für Aufwand bei korrekter Rechnung

Geprüft wird von den Kassen laut Dr. Hammerich vor allem „erlösorientiert“ und konzentriert auf bestimmte Themen. Regelhaft kontrolliert wird z.B. eine lange Liegedauer auf der Intensivstation oder eine frühe stationäre Aufnahme – ganz gleich, wie weit der Patient von Berlin entfernt lebt. Ansonsten decken sich die Prüfergebnisse der Charité mit den Aussagen der Krankenhausumfrage. Dr. Hammerich zufolge „rettet“ das Charité-Team aufgrund nicht substantiierter Prüfungsergebnisse dem Haus jährlich einen siebenstelligen Euro-Betrag.
Der Aufwand, den die Krankenhäuser bei den Einzelfallprüfungen betreiben müssen, ist nicht selten hoch. Nur wenn sich eine Rechnung als korrekt herausstellt, muss die Krankenkasse, die die Prüfung veranlasste, eine Aufwandspauschale von 300 Euro an das Krankenhaus zahlen. Der GKV-Spitzenverband, der Einzelfallprüfungen unverändert für notwendig hält, fordert deshalb inzwischen, die Aufwandspauschale „symmetrisch“ auszugestalten: Kliniken sollen bei problematischen Abrechnungen eine gleich hohe Aufwandspauschale an die prüfende Kasse zahlen müssen.

Sind Kosten und Nutzen der Prüfungen im Lot?

Eine Kosten-Nutzen-Betrachtung der Einzelfallprüfungen nach § 275 SGB V hat es bisher noch nicht gegeben. Angesichts des personellen und finanziellen Aufwandes für MDK, Gutachter und Sozialrichter wäre das Ergebnis einer solchen Prüfung aber sicherlich interessant.

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