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Tun Sie zuviel für Ihre Patienten?

Praxismanagement , Patientenmanagement Autor: Sascha Bock; Foto: privat

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Ein Kollege kritisiert die medizinische Überversorgung und sieht die Ärzte gefangen in einem Netz aus falschen Denkweisen, Vergütungssystemen und Industrieinteressen. Besonders Kardiologen übertrieben es oft.

Patientenrelevante Endpunkte verbessern – diesen Nutzen soll eine medizinische Behandlung bringen. Notwendige Voraussetzung dafür ist der wohlüberlegte Einsatz einer Intervention: am richtigen Patienten zum richtigen Zeitpunkt mit der erforderlichen Fachkompetenz, erklärt Prof. Dr. David Klemperer von der Ostbayerischen Technischen Hochschule in Regensburg. Ansonsten drohe Überversorgung oder Unterversorgung (Vorenthalten von nützlichen Leistungen).

Seine Kritik an der aktuellen Patientenversorgung macht er am Beispiel der stabilen KHK deutlich: Hier ist ein Vorteil der perkutanen koronaren Intervention (PCI) nur zu erwarten, wenn trotz ausgeschöpfter medikamentöser Therapie Angina Pectoris-Beschwerden auftreten und sich der Betroffene so beeinträchtigt fühlt, dass er die Risiken eines Eingriffs auf sich nimmt. Weder wird die Lebenserwartung verbessert noch die Wahrscheinlichkeit künftiger Infarkte durch die PCI gemindert. Das sollte der Patient wissen!

Viele Koronarangiographien unnötig

Doch viele Kardiologen klären Herzkranke regelmäßig irreführend oder falsch auf, zeigen amerikanische und englische Studien. Eine Analyse von 40 Patientengesprächen zur Koronarangiographie zeigte: Lediglich in zwei Gesprächen erläuterten die Ärzte zutreffend die alleinige Symptomlinderung als Benefit der PCI bei stabiler KHK, in 17 Fällen übertrieben sie den Nutzen explizit. Weitere Studien belegen die mangelhafte ärztliche Aufklärung und gleichzeitig die übertriebenen und falschen Erwartungen vieler Patienten.

Der Patient, der weiß, welchen Vorteil ihm ein Stent bringt, scheint also bislang eine seltene Ausnahme zu sein, so Prof. Klemperer. Auch äußern einige Kardiologen falsche Vorstellung über den Nutzen der PCI – ihnen fehlt also selbst das aktuelle Wissen.

Regionale Unterschiede in der Versorgung nur Zufall?
Einige Unterschiede in der medizinischen Versorgung lassen sich nicht einfach mit Abweichungen in der Morbidität oder mit der Patientenpräferenz erklären.
Beispielsweise ist die Wahrscheinlichkeit einer Tonsillektomie bis zum 19. Lebensjahr in Bad Kreuznach, Bremerhaven oder Delmenhorst achtmal höher als in Rosenheim.
Entsprechend große Schwankungen finden sich in Deutschland auch für die Defibrillator-Implantation oder die Appendektomie. Prof. Klemperer sieht hier einen klaren Zusammenhang zu Über- und/oder Unterversorgung.

Ärzte behandeln Laborwerte statt Patienten

Wie konnte es zu einer Versorgung kommen, die den Zweck „Patientennutzen mehren“ verfehlt? Der Experte macht dafür v.a. vier Faktoren verantwortlich: Das moderne biomedizinische Modell definiert Krankheit als Abweichung von Normwerten messbarer Variablen. Die Therapie besteht folglich in der Korrektur dieser Abweichung. Das führt zu einer mechanischen und aktionistischen Sichtweise: „Mehr ist besser“ – so der Trend der modernen Medizin. Die Bedeutung einer Maßnahme für den Patienten rückt in den Hintergrund.

Auch Vergütungssysteme wie Pauschalierung oder Einzelleistungsvergütung tragen zu einer Fehlversorgung bei. Denn die finanziellen Eigeninteressen jedes Arztes stehen stets in einem Spannungsverhältnis zu den Patienteninteressen. Diese beiden Bedürfnisse sollten sich im besten Fall decken, z.B. mit einem Vergütungssystem, das die erwünschte Versorgungsqualität widerspiegelt.

Leistungsvergütung führt zu teuren, sinnlosen Eingriffen

Die große Nähe der pharmazeutischen und technischen Industrie zu den Leistungserbringern schränkt die Kritikfähigkeit vieler Ärzte deutlich ein, erklärt Prof. Klemperer. Er kritisiert die informelle Allianz aus Pharmaunternehmen, meinungsführenden Ärzten und häufig auch Patienten- und Selbsthilfegruppen.

Auch psychologische Faktoren beeinflussen das ärztliche Handeln hin zur Über- oder Unterversorgung. Es existieren Verzerrungseffekte in der eigenen Wahrnehmung: So schenkt man Informationen, die zu einer vorgefassten Meinung passen, mehr Beachtung als solchen, die dem eigenen Bild widersprechen.

AWMF hilft Patienten zu entscheiden

Prof. Klemperer appelliert an alle Institutionen und Personen, die Verantwortung für Über- und Unterversorgung tragen, sich dieser Verantwortung auch zu stellen. Bezogen auf die stabile KHK lobt der Kollege die Nationale Versorgungsleitlinie*

Nicht allein die Abweichung von der Norm korrigieren

Welche Konsequenzen ergeben sich aus Ihrer Kritik konkret für die tägliche Praxis?


Prof. Klemperer: Als Arzt bzw. Ärztin sollte ich das Problem stets vom Patienten bzw. der Patientin aus denken. Das bedeutet, patientenrelevante Therapieergebnisse zu erzielen und nicht allein Abweichungen von der Norm zu korrigieren. Wir sollten den Patienten nicht mehr als nötig mit Medizin belästigen. „So viel nichts tun wie möglich“ hat der Medizin-Kabarettist Eckart von Hirschhausen dazu gesagt. Bei präferenzsensitiven Maßnahmen sollte eine gemeinsame Entscheidungsfindung (shared decision making) angestrebt werden. Entscheidungshilfen für Patienten, wie die zur Stentimplantation in der NVL chronische KHK, unterstützen dieses Vorhaben.

 
Welchen Ratschlag würden Sie einem Hausarzt geben, um dem Problem medizinischer Überversorgung entgegenzusteuern?

Prof. Klemperer: Überversorgung hat viel damit zu tun, dass wir eingeübte Verhaltensweisen einfach fortführen, wie z.B. die überflüssige antibiotische Behandlung bei ansonsten gesunden Patienten mit akuter Bronchitis. Meiner Erfahrung nach sind Patienten zumeist gar nicht so erpicht auf Antibiotika. Ein kurzes Gespräch über den fehlenden Nutzen dieser Behandlung und die Möglichkeiten zur Symptomlinderung dürfte die meisten Patientinnen und Patienten zufriedenstellen – ergänzend händige ich stets die DEGAM Patienteninformation „Was hilft bei Erkältungshusten?“ aus.

 
In Großbritannien nehmen fast alle Hausärzte an einem „Pay for Performance“-Vergütungsprogramm teil. Könnten Sie sich ein solches System auch hierzulande vorstellen?

Prof. Klemperer: „Pay for Performance“ (P4P) sehe ich skeptisch. Patienteninteressen und finanzielle Interessen des Arztes sind in einem Vergütungssystem nie vollständig unter einen Hut zu bringen. Es werden immer Anreize zur Über- und Unterversorgung bleiben. Mehr Erfolg verspricht m.E. eine Strategie, die in erster Linie auf die Motivation der Ärzte setzt, den Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Damit meine ich die Qualitätsinitiative „Gemeinsam klug entscheiden“ der AWMF.

Das Interview führte Dr. Sascha Bock



*www.awmf.org

Quelle: David Klemperer, Swiss Medical Forum 2015; 15: 866-871

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