Anzeige

Telematikinfrastruktur Zwischen Fristverlängerung, Musterprozessen und Verzweiflung

Praxismanagement , Praxis-IT Autor: Anouschka Wasner

TI-Ärger aus allen Ecken: Rund 14.000 Euro Strafe und Angst, als Vertragsarzt ausgeschaltet zu werden. TI-Ärger aus allen Ecken: Rund 14.000 Euro Strafe und Angst, als Vertragsarzt ausgeschaltet zu werden. © crevis – stock.adobe.com
Anzeige

In den nächsten Wochen wird die Digitalisierung die Praxen mit voller Wucht treffen: Um eAU und eRezept kommt nach aktuellem Stand ab Januar keine Praxis mehr herum. Dabei sind deutschlandweit annähernd 10 % der Praxen noch gar nicht an die TI angeschlossen.

Mitte September wendet sich der Hausarzt Dr. Patrick Behran (Name von der Redaktion geändert) an den Vertrieb des Unternehmens, das den Auftrag hatte, bei ihm den Anschluss an die Telematikinfrastruktur (TI) herzustellen – und daran scheiterte. Er schreibt: „Heute hat bei mir ein Installationsversuch der TI stattgefunden – so muss man es leider nennen. Ich gebe dem Techniker keine Schuld, er hat es viereinhalb Stunden versucht.“ Seine Vorbereitung sei optimal gewesen: TI-Ready-Check und alle Updates durchgeführt, SMC-B-Karten freigeschaltet, KIM-Adresse aktiviert, Passwörter lagen vor, aktueller Netzwerkplan vorhanden. Funktioniert habe es trotzdem nicht.

Bislang hatte sich der Arzt aus Datenschutzgründen noch geweigert, die Installation der TI in Auftrag zu geben. Dafür hat er bis heute rund 14.000 Euro Strafe in Kauf genommen. Diese Einbuße sowie die Angst, eines Tages als Vertragsarzt handlungsunfähig zu werden, hat ihn letztlich die Entscheidung treffen lassen, die er gerne vermieden hätte.

Der nächste Termin zur TI-Installation in seiner Praxis sei am 27. September. Dann muss das System funktionieren, sagt der Arzt. „Eine weitere Strafzahlung von 2,5 % ist für mich nicht mehr akzeptabel – nachdem ich jetzt der Installation zugestimmt und diese mit ausreichendem Vorlauf bis zum Quartals­ende in die Wege geleitet habe.“

Die Liste, in welchen Praxen Honorare gekürzt werden, erstellen die KVen vermutlich anhand der Erklärung, ob eine Praxis bzw. Betriebsstätte „ePA-ready“ ist. Diese wird seit Quartal 2/2021 automatisch mit der Quartalsabrechnung übertragen. Sollte es Dr. Behran also nicht gelingen, seinen Anschluss bis zur Quartalsabrechnung zu realisieren, muss er möglicherweise erneut auf 2,5 % seines Honorars verzichten.

Aber nicht nur die Anschlussprobleme lassen Ärztinnen und Ärzte wütend werden. KBV-Vorstand Dr. Thomas Kriedel fürchtet auch den laufenden Betrieb der TI. So habe es in den zurückliegenden Wochen 16 Störungen in der Telematikinfrastruktur gegeben, deren Behebung im Schnitt siebeneinhalb Stunden gedauert habe – seitdem ist es übrigens schon wieder eine mehr geworden.

Sanktionen auch bei technischen Problemen?

Die Praxen sollten sich zwar frühzeitig auf einen Umstieg vorbereiten. Es müsse jedoch sichergestellt sein, dass bei technischen Hindernissen Aufschub gewährt wird, so Dr. Kriedel weiter. Mittlerweile warnt die KBV sogar angesichts des verspäteten und unzureichenden Feldtests vor einem übereilten Umstieg auf die eAU. Die Vertreterversammlung hatte sich dann auch dafür ausgesprochen, sowohl die Einführung des eRezeptes als auch die Verpflichtung zur Ausstellung der eAU zum 1. Januar zu verschieben.

Dr. Werner Baumgärtner von MEDI Baden-Württemberg glaubt nicht, dass die Beschlüsse der KV jetzt noch etwas ausrichten können. Der Minister sei wild entschlossen, die Digitalisierung nach einer Art Trial-and-error-Prinzip voranzutreiben – erst mal live gehen, alle Korrekturen erfolgen im laufenden System. Es sei ein Wunder, dass das noch keine Auswirkungen auf die Patientenversorgung hat. Einziger Ausweg aus dieser unheilvollen Situation sei die Freiwilligkeit, so Dr. Baumgärtner. „Vielleicht wird ja mit den Neuwahlen das Ministeramt mit jemandem besetzt, der das erkennt.“

Stichwort Freiwilligkeit bzw. Zwang: Im Vorfeld der Vertreterversammlung hatte ein Schreiben der KV Westfalen-Lippe zum Thema Sanktionen für Unmut gesorgt. Die KV hatte sich darin an jene Praxen gewandt, die noch nicht an die TI angeschlossen sind, und sie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um eine vertragsärztliche Pflichtverletzung handele, wenn sie ihrer gesetzlichen Pflicht zur Ausstellung der eAU und des eRezepts nicht nachkommen würden. Disziplinarverfahren für fehlende TI-Anbindung seien zurzeit nicht konkret geplant, könnten aber „nicht zuletzt aufgrund des eigenen Antragsrechts der Kassen nicht ausgeschlossen werden“.

Wie die Krankenkassen ihr Antragsrecht wahrnehmen werden, liegt natürlich nicht in der Hand der KVen. Auf direkte Nachfrage bei den KVen im Bundesgebiet äußerte sich aber die Mehrheit der KVen dahingehend, dass sie derzeit nicht beabsichtigten, Disziplinarmaßnahmen zu ergreifen. Die politischen, juristischen und technischen Unklarheiten müssten zunächst aus dem Weg geräumt werden.

Nur Aufschieben reicht nicht, sagen manche

Berlin erklärt in diesem Zusammenhang, dass nach aktueller Auffassung die vom Gesetzgeber verhängten Sanktionen ausreichend sind, Niedersachsen verweist auf nicht abgeschlossene interne Diskussionen, Thüringen unterstreicht, auf Aufklärung statt auf Sanktionen zu setzen. Baden-Württemberg erklärt, man wolle den Ausgang der Musterverfahren abwarten: „Solange im Musterverfahren nicht die Rechtmäßigkeit der Verpflichtung der TI geklärt ist, werden wir nicht weiter gegen die Ärzte vorgehen.“

Das reiche aber nicht, sagt Dr. Baumgärtner. Die KVen kritisieren das System, zögen aber derweil den Ärztinnen und Ärzten das Honorar ab. Die KVen müssten sich jetzt entscheiden, was sie wollen. So könnten sie z.B. die Strafen aussetzen. „Dann schauen wir mal, was passiert“, sagt Dr. Baumgärtner. „Wir brauchen einen Schritt, der Konsequenzen mit sich bringt.“ Zum Beispiel, dass die Aufsicht ins Spiel kommt.

Der juristischen Einschätzung des Mediverbundes nach wird es wohl auch gar nicht so leicht sein, am Punkt fehlende TI-Anbindung Disziplinarstrafen durchzusetzen. Entsprechende Drohungen fühlten sich zwar existenziell an – wahrscheinlicher sei aber, dass das System für Praxen ohne TI-Anschluss gangbar gehalten wird, um die Versorgung nicht zu gefährden. „Würde man alle Praxen ohne TI-Anschluss aus der Versorgung ausschließen, das wäre spürbar.“ Zwischen 4 % und 13 % der Ärztinnen und Ärzte in den verschiedenen KV-Bereichen sind noch nicht angeschlossen, viele davon wohl Versorgerpraxen.

Ohne Verbindung zur Telematikinfrastruktur (Angaben der KVen)
Nicht angeschlossene Praxen
Einbehaltene Honorare
Eingelegte Widersprüche
KV Baden-Württembergca. 10 % = ca. 1.500 von 15.0001,5 Millionen Euro im Quartalca. 120 seit 1/2019
KV Bayerns11 bis 12 % = ca. 2.000 von 17.686niedriger zweistelliger Millionenbetragwenige
KV Berlin13 % = 823 von 6.334 4.118.946 Euro seit 1/20192.539 in 2019 + 2020
KV Brandenburgk.A.k.A.k.A.
KV Bremen5,5% = 80 von 1.455k.A.180
KV Hamburg4,2 % = 152 von 3.617932.417,82 Euro seit 1/219124 seit 1/2019
KV Hessen7,6 % = 779 von 10.299k.A.855 seit 1/2019
KV Mecklenburg-Vorpommernk.A.k.A.k.A.
KV Niedersachsen9 % = 1.009 von 11.2111.112.193 Euro seit 1/2019821 seit 1/2019
KV Nordrhein8,3 % = 1.198 von 14.500950.000 Euro in 1/20211.750 seit 1/2019
KV Rheinland-Pfalz8 % = 377 von 4.7122.388.124 Euro seit 1/2019709 seit 1/2019
KV Saarland3,6 % = 49 von 1.361486.089 Euro seit 1/201998 seit 1/2019
KV Sachsen8,5 % = 545 von 6.443k.A.102 seit 1/2019
KV Sachsen-Anhalt5,5 % = 146 von 2.795760.477 Euro seit 1/201946 seit 1/2019
KV Schleswig-Holsteink.A.k.A.k.A.
KV Thüringen8 % = 263 von 3.0821.089.000 Euro in 2019+2020389 seit 1/2019
KV Westfalen-Lippe7 % = 700 von ca. 10.000k.A.3.791 seit 1/2019
Prozentzahlen gerundet; Abfrage: September 2021

Dr. Baumgärtner hofft auch auf die Gerichte. Es gehe hier schließlich um eine technisch unausgereifte TI, gegen die sich die Praxen nur mit Nicht-Anschluss wehren könnten. „Wir glauben, dass wir keine Angst haben müssen, wenn wir nicht installieren. Ich persönlich bin bereit, es darauf ankommen zu lassen und es grundsätzlich zu klären“, sagt er.

Aktuell laufen bereits zwei Mus­terklagen von MEDI Geno zum Thema Honorarkürzungen und Anschlusspflicht, eine in Rheinland-Pfalz und eine in Baden-Württemberg. Seit anderthalb Jahren liegen die Verfahren beim Sozialgericht und warten auf eine Entscheidung – für die Arztpraxen, für die es dabei um eine grundsätzliche und existenzielle Entscheidung geht, eine ganz schön lange Wartezeit.

Und während sich also die Mus­terklagen weiter gedulden müssen, die KBV über die unhaltbaren Zustände tobt und Ärztinnen und Ärzte weiterhin aus unterschiedlichen Gründen resignieren oder verzweifeln – verhandelt die gematik ohne Atempause bereits die nächste Neuerung: die TI ohne Konnektor.

KBV-Vorstand Dr. Kriedel hatte eigentlich eine Konsolidierungsphase eingefordert, in der sich die neuen Abläufe erst mal in den Praxen einlaufen können. Das interessiert offensichtlich niemanden: Drei Tage nach der Bundestagswahl soll in der gematik-Gesellschafterversammlung das Konzept zur TI 2.0 beschlossen werden.

Denn die gematik will sich vom geschlossenen Gesundheitsnetz, also vom Konnektor als TI-Anschluss, verabschieden und stattdessen den „Zero-Trust-Ansatz“, eine Software-Lösung, verfolgen. Damit droht Praxen und Patienten aber schon wieder, als Versuchskaninchen fungieren zu müssen.

Hausarzt Dr. Behran spricht wahrscheinlich einigen aus der Seele, wenn er sagt: „Es ist unerträglich, wie wir alle unsere Lebenszeit mit dieser dysfunktionalen TI verschwenden.“ Die TI sei eine unglaubliche Verschwendung, auch von Versichertengeldern. „Und nicht zuletzt: Das geplante Forschungsdatenzentrum und die in Aussicht gestellte Opt-out-Regelung für die ePA bringen Patientendaten aus meiner Sicht ernsthaft in Gefahr.“

Medical-Tribune-Recherche

Anzeige