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Corona trifft psychisch Kranke auch ohne Infektion

Autor: Maria Fett

Die Pandemie unterbricht oft die mühsam aufgebauten Routinen von Menschen mit psychischen Erkrankungen. (Agenturfoto) Die Pandemie unterbricht oft die mühsam aufgebauten Routinen von Menschen mit psychischen Erkrankungen. (Agenturfoto) © iStock/dragana991
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Sie gehören zu jenen, die die Folgen der Coronamaßnahmen am deutlichsten spüren: Dabei sind Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig schon unter normalen Umständen auf Hilfe und soziale Unterstützung angewiesen. In der aktuellen Lage verschärft sich ihre Situation dramatisch.

Vermutlich gibt es kaum jemanden, der seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie nicht in irgendeinem Lebensbereich zurückstecken musste. Auch rund ein halbes Jahr später hält das Coronavirus die Gesellschaft noch in Atem. Doch was ist mit jenen, die ohnehin im Alltag zu kämpfen haben?

Anstieg suizidaler Handlungen befürchtet

Personen mit manifesten Depressionen oder Angststörungen leiden noch mehr als Gesunde unter dem Verlust sozialer Kontakte. Sie leben krankheitsbedingt bereits stärker zurückgezogen und sind häufig auf mühsam aufgebaute Routinen angewiesen. Die oftmals wenig erbauliche Krisenkommunikation der Medien liefert negativen Gedankenspiralen zusätzlich einen idealen Nährboden. Das kann das ohnehin ausgelastete psychiatrische Versorgungssystem kaum auffangen. Erschwert durch die allgegenwärtigen Kontaktbeschränkungen nehmen Betroffene die Hilfen außerdem noch seltener als zuvor in Anspruch.

Bisher fehlen dafür zwar größtenteils empirische Belege, Dr. Tarik­ Karakaya­ vom Universitätsklinikum Frankfurt und Kollegen befürchten allerdings, dass suizidale Handlungen infolge der Krise zunehmen werden. Zumindest in den stark durch Corona gebeutelten USA ist die Selbstmordrate bereits deutlich gestiegen. Auch wenn der direkte Vergleich zur Situation in Deutschland in vielen Punkten hinkt, wäre es sinnvoll, präventive Schritte einzuleiten, indem beispielsweise Hilfsangebote erleichtert und Risikogruppen direkt angesprochen werden.

Gleichzeitig, aber nicht gleich

Auch wenn SARS-CoV-2 noch vergleichsweise jung ist, wurde bereits damit begonnen, die Auswirkungen auf das (Er)Leben der Menschen zu untersuchen. Ob die Krise z.B. psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung hat zunehmen lassen, bleibt bislang spekulativ. In einer seit bereits zwei Jahren laufenden Langzeitstudie der Universitätskliniken Frankfurt und Mainz werden mehr als 1000 bis dato gesunde Erwachsene hinsichtlich psychischer Stressoren untersucht. Erste Ergebnisse zeigen, dass Corona die seelische Gesundheit der Probanden beeinflusst – aber nicht gänzlich wie erwartet. So scheint der Quasi-Lockdown bei psychisch Gesunden eher zu einer geringeren Stressbelastung und einem besseren psychischen Befinden geführt zu haben. Andererseits waren die Teilnehmer natürlich auch von den negativen Auswirkungen der Pandemie z.B. durch Wegfall der Kinderbetreuung etc. betroffen.

Ähnlich belastend dürfte die Lage für Menschen mit Persönlichkeitsstörungen sein. Borderlinepatienten, deren Beziehungsmuster emotionaler und instabiler sind als die von Gesunden, reagieren sensibel auf Veränderungen und Belastungen. Die Betroffenen brauchen sichere Kontakte und viel Vertrauen, um in der Gesellschaft angepasst leben zu können. Lockdown und dadurch bedingte Unterbrechungen der Psychotherapie machen dies fast unmöglich, was dysfunktionale Verhaltensmuster bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen verstärkt. Hinzu kommt die Angst, Bezugspersonen durch COVID-19 zu verlieren. Patienten brechen Beziehungen ab und könnten in der Folge in eine Abwärtsspirale aus Drogenmissbrauch und Selbstverletzung geraten.

Kaum Selbsthilfegruppen für Suchtpatienten

Suchtkranken, die es aus der Abhängigkeit geschafft haben, macht die Pandemie das abstinente Leben nicht leichter. Selbsthilfegruppen und Gruppentherapien – von denen die Anonymen Alkoholiker sicher am bekanntesten sind – finden derzeit kaum noch statt, mahnen die Autoren. Gleiches gilt für elektive stationäre Behandlungen. Und nicht für jeden bietet die Telemedizin Ersatz. Zusätzlich gibt es generell bei Suchtpatienten eine hohe Rate an Komorbiditäten bzw. Folgeerkrankungen, die beachtet und behandelt werden müssen. Nicht grundlos warnen Verbände und Fachgesellschaften ausdrücklich davor, dass der Zusammenbruch der Suchthilfe die akutmedizinischen Stellen belasten wird. Noch düsterer scheinen die Aussichten angesichts eines Trends, der sich seit März abzeichnet: Um Stress und Konflikte im Rahmen der Pandemie zu bewältigen, wird vermehrt zur Flasche gegriffen – von der gesamten Gesellschaft. Dass Betrunkene sich weniger an Abstandsregeln halten und der Konsum von Alkohol die Schwelle zur (häuslichen) Gewalt herabsenkt, muss kaum erwähnt werden. Das bestätigen auch die aus Frauenhäusern gemeldeten Daten.

Angst im Altenheim

Insbesondere Bewohner von Pflegeeinrichtungen, leiden bzw. litten extrem unter der Pandemie, schreiben die Autoren und beziehen sich dabei nicht nur auf das „Überleben“ in der Risikogruppe. Demente haben und hatten schwer mit den Kontaktverboten zu kämpfen. Aber auch generell wirkt sich das Zusammenspiel von abnehmender kognitiver Fähigkeit, sozialer Isolation/Quarantäne und dem eingeschränkten Zugang zu Informationen gravierend auf die psychische Gesundheit aus, erklären die Psychiater aus Frankfurt. Um ihre Lage nicht zu verschärfen, sollten alte Menschen nur so kurz wie möglich isoliert werden.

Und was macht eine positive ­COVID-19-Diagnose mit Betroffenen? Die Erkrankung wird vorrangig mit Atemwegssymptomen in Verbindung gebracht. Laut den Autoren sind auch neuropsychiatrische Beschwerden – Schwindel, Kopfschmerzen, Gang- oder Bewusstseinsstörung – gar nicht so außergewöhnlich. Hinzu kommen individuelle Ängste und Ungewissheiten („Werde ich bleibende Schäden davon tragen?“, „Werde ich wieder arbeiten können?“), die wiederum bereits bestehende psychische Erkrankungen exazerbieren lassen können.

Quelle: Karakaya T et al. Hessisches Ärzteblatt 2020; 7/8: 394-399