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Hausarztmedizin 2040 Avatar-Ärzte, Profitgier und KI-Praxen

Gesundheitspolitik Autor: Dr. Ingolf Dürr

Die CarePods des US-Unternehmens Forward Health sind eine Art KI-Praxis. Ärzte sind nicht nötig. Die CarePods des US-Unternehmens Forward Health sind eine Art KI-Praxis. Ärzte sind nicht nötig. © Forward Health
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Laut Amazon ist es verrückt, zum Arzt zu gehen. Patienten sollen künftig über das Unternehmen Videosprechstunden buchen, Medikamente kaufen und sich diese per Drohne liefern lassen. Könnte das in Deutschland so kommen? Ein Experte wagt einen Blick in die hausärztliche Versorgung im Jahr 2040. 

Wie wird sich die medizinische Versorgung bis 2040 wandeln? Auf Einladung des Bayerischen Hausärzteverbands wagte Prof. Dr. Ferdinand ­Gerlach, der langjährige Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege, einen Blick in die gar nicht mehr so ferne Zukunft der Hausarztmedizin. „Ein Teil meiner Ausführungen könnte Sie verunsichern“, begann er seinen Ausblick.  

Kokurrenz durch Tech-Giganten

Es gelte einige Megatrends zu beachten. Das seien zum einen der demografische Wandel, die Globalisierung, die Urbanisierung und der Klimawandel. Besonders hervor hob Prof. Gerlach allerdings die Ambulantisierung und die digitale Transformation. Hierzulande habe man in den letzten Jahren einiges verschlafen. Große Konzerne hätten das riesige Potenzial des Medizinmarkts längst erkannt – insbesondere in so „ineffizient strukturierten Märkten“ wie Deutschland. 

So habe Amazon 2022 ein medizinisches Angebot eingeführt mit dem erklärten Ziel, pharmazeutische und diagnostische Angebote miteinander zu vereinen. Das Unternehmen sieht darin eine seiner aufregendsten Innovationen und ein Billionengeschäft. In zehn Jahren würden die Leute Arztbesuche, wie sie heute stattfinden vollkommen „verrückt“ finden, behauptet das Unternehmen. 

Der Tech-Gigant bietet seinen Kunden ein „Drei-Säulen-Modell“ als Rundumpaket an. Dieses enthält mit „Amazon Care“ eine virtuelle ärztliche Sprechstunde und Testkits für zu Hause, deren Ergebnisse am selben Tag vorliegen. Das nennt sich „Amazon Diagnostics“. Dazu kommt dann „Amazon Pharmacy“, das eine Flatrate von 5 Dollar pro Monat für 53 Arzneimittel beinhaltet. Das Unternehmen greift damit auch Apotheken an, denn in Zukunft sollen Medikamente von Drohnen an die Haustür geliefert werden. 

Die Absicht des Konzerns ist es, das „goldene Fenster“ zwischen Diagnose und Therapiebeginn zu verkleinern. In den USA hat Amazon bereits 182 Hausarztpraxen von One Medical für fast 4 Mrd. Dollar gekauft. Für eine Jahresgebühr von 199 Dollar können Nutzer rund um die Uhr persönliche Arztbehandlungen inklusive Check-ups und Impfungen in Filialen buchen.

Da mag man denken, na gut das sind die USA, hier sieht es anders aus. Doch diese Sichtweise stimme so nicht, warnt Prof. Gerlach. Hierzulande hat der schwedische Telemedizinanbieter ­­­doctor.de gerade vier Arztsitze in Berlin gekauft. Doctor.de will dort die virtuelle und physische Versorgung miteinander verbinden. Junge Ärzte sollen mit attraktiven Arbeitsmodellen und einer besseren Work-Life-Balance geworben werden. Im November 2023 verfügte doctor.de bereits über sechs Hausarztpraxen und drei MVZ – und es sollen mehr werden.

Hausärztliche Versorgung im Jahr 2040 – acht Thesen von Prof. Gerlach

  1. Hausärzte werden Patientenkontakte an die Tech-Giganten verlieren, da Amazon und Co. bereits jetzt über eine marktbeherrschende Stellung im Bereich Digitalisierung verfügen und Neuerungen wie KI-Chatbots, Telemedizin, Point-of-Care-Diagnostik (Eigen-Diagnose z.B. über Testkits, die nach Hause geliefert werden) und Arzneimitteldistribution (Lieferung direkt an den Patienten) umsetzen können.

  2. Plattformökonomische Wertschöpfungsketten setzen sich über hochpotente Netzwerk- und Skaleneffekte auch in hochregulierten Versicherungssystemen früher oder später durch. Sprich: Auch wenn Deutschland ein anderes Gesundheitssystem als die USA hat, werden die Tech-Giganten an Marktanteilen gewinnen.

  3. Klinikaufenthalte werden durch Ambulantisierung zur Ausnahme. Die Primärversorgung in ambulant-stationären lokalen Gesundheitszentren wird klinischer und enger mit Akut- und Langzeitpflege verknüpft. Laut Hochrechnungen wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2040 auf 6–7 Mio. Menschen steigen.

  4. Primärversorgungszentren sind multiprofessionelle und interdisziplinäre Teampraxen und entwickeln sich aus BAG, MVZ, (vernetzten) Einzelpraxen und auch aus Grundversorgungs-KIiniken.

  5. Primärversorgungszentren bieten auch „Hospital at home/virtual ward“ (Videomonitoring, digitale Devices, Hausbesuche) sowie „Healthcare anywhere“ (am Arbeitsplatz, auf Reisen, im selbstfahrenden Auto).

  6. Sprachbasierte KI-Programme wie ChatGPT unterstützen Praxisteams und übernehmen Teile der Patientenversorgung.

  7. Ein Wunsch oder eine Hoffnung bleibt: empathische Hausärzte werden wichtiger denn je, entscheiden (mit mehr Zeit) gemeinsam mit Patienten über evidenzbasierte Diagnostik und Therapie, schützen diese vor zu viel und vor falscher Medizin und tragen entscheidend zu mehr Nachhaltigkeit und Resilienz bei.

  8. Hausärzte und ihr Verband (sowie die DEGAM) können diese tiefgreifende Transformation mitgestalten. Die Weichen werden jetzt gestellt.

Diagnostik-Container statt Arzt

Die Anwesenheit von Ärzten oder Personal könnte in den Praxen der Zukunft nicht mehr erforderlich sein. So hat der Klinikkonzern Helios im Frühjahr 2022 in Leipzig seinen C4U2BE-Cube vorgestellt. Dabei handelt es sich um eine Art elegant konstruierten Container, in dem Diagnostik wie Röntgen, Ultraschall, Blutdruck- und Augeninnendruckmessung durchgeführt werden kann. Die Patienten treten ein und werden von einem Telearzt begrüßt. Unter dessen Anleitung führt Fachpersonal die Untersuchungen durch. Die Teleärzte erhalten die Ergebnisse und leiten eine Therapie ein. Herz-Kreislauf- sowie Lungenerkrankungen und Diabetes können so medizinisch überwacht und behandelt werden. Der Kubus ist überall aufstellbar, z.B. in Einkaufszentren. Gedacht ist er für den Einsatz in unterversorgten Regionen.

Alles Zukunftsmusik? Durchaus nicht! So geht das BMG in seiner Strategie „Gemeinsam digital“ davon aus, dass es bis 2026 in mindestens 60 % der hausärztlich unterversorgten Regionen eine Anlaufstelle für assistierte Telemedizin geben wird, z.B. in Apotheken und Gesundheitskiosken, erklärt Prof. Gerlach.

Wird es also irgendwann eine Praxis ganz ohne Arzt und MFA geben? In den USA hat das Unternehmen Forward Health bereits CarePods vorgestellt als Beispiel für die weltweit erste „KI-Praxis“

In die Care­Pods erhalten Kunden per Smartphone Zugang. Über einen Touchscreen und einen Chatbot können sie dann Untersuchungen wählen, etwa Ganzkörper-Scan, Thyreoid-Test, HIV-Screening, COVID-Test, oder einen Check von Nieren- und Lebergesundheit. Die Anleitungen zu den Diagnostikverfahren finden sich mit den nötigen Gerätschaften in Schubfächern. Blut wird nadellos entnommen. 

Die Ergebnisse werden auf dem Screen angezeigt, eine Therapie empfohlen und via App werden Rezepte an 100 Primary Care Clinicians übermittelt. Einzige Personalanforderung der Pods: Reinigungskräfte. Das Ganze gibt es für eine monatliche Gebühr zwischen 99 und 149 Dollar.

Forward Health sieht sich als der „Apple Store“ unter den Arztpraxen. In großen Städten stünden bereits 20 Pods. Geplant sind 3.200 pro Jahr. So soll ganz allmählich die medizinische Versorgung weg von Arzt/MFA, hin zu Hard- und Software erfolgen. Denn für Forward Health sind Arztpraxen ein Modell der Vergangenheit.

Dass der Primärversorgungsmarkt in Deutschland attraktiv ist, zeigt der Versandhändler Otto. Er ist mit der Übernahme des digitalen Gesundheitsservices Medgate und des Arztfinders Better Doc in den Bereich der Telemedizin eingestiegen.

Klinikaufenthalt nicht mehr nötig

Insgesamt sei das Ambulantisierungspotenzial in Deutschland schon jetzt hoch, so Prof. Gerlach. Durch Telemedizin sowie digitale Devices und KI würden ambulante Strukturen gefördert und Klinikaufenthalte seltener. Der nächste Schritt seien dia­logbasierte KI-Anwendungen, die Anamnesen erheben, Befunde dokumentieren, das Patientenmonitoring unterstützen, Arztbriefe schrei­ben, Patientenschulungen durchführen und Krankenkassenanfragen beantworten. 

Im Jahr 2040 wird dann ein digitaler Zwilling zum Avatar-Arzt gehen, prophezeit Prof. Gerlach. Virtuelle Doppelgänger werden von Geburt an in Echtzeit mit Daten realer Menschen gefüttert. Daraus werden individuelle Medikations-Dosierungen modelliert und wird der Therapieerfolg kontrolliert. Und das digitale Ebenbild kann im Metaverse virtuelle Avatar-Ärzte kontaktieren.

Medical-Tribune-Bericht

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