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Dauerhafte Vorteile: Länger leben in der HzV

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

10 Jahre HzV: Die Vertragspartner und  Evaluatoren sind zufrieden.
10 Jahre HzV: Die Vertragspartner und Evaluatoren sind zufrieden. © Jens Schicke
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Vor zehn Jahren startete der HzV-Vertrag von AOK, Hausärzteverband und MEDI Baden-Württemberg. Von einem „Frontalangriff“ auf das KV-System war die Rede und von „Money-for-nothing-Naivlingen“, erinnert sich der AOK-Chef. Jetzt sagen Wissenschaftler: Die HzV ist der Regelversorgung medizinisch und wirtschaftlich überlegen.

Es war das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, mit dem die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV) als Konkurrenz bzw. Ergänzung der Regelversorgung scharf geschaltet wurde. Wenn Dr. Christopher Hermann, Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg, nun anlässlich des zehnjährigen Bestehens der HzV im Südwesten eine Zwischenbilanz zieht, stellt er fest: Die strukturierte Versorgung in Eigenregie von Ärzten und Kasse funktioniert prima. Dass sie dennoch keine Nachahmung in Gestalt eines vergleichbaren bundesweiten Vertrags gefunden hat, erklärt der AOK-Chef mit der „Bequemlichkeit“, die die Regelversorgung bietet: Eine Kasse nimmt Geld ein und gibt es aus – muss aber die Versorgung ihrer Versicherten nicht selbst organisieren.

Damit bleibt es der Politik überlassen, Neues zu versuchen. Und so bringt jede Legislaturperiode weitere Gesundheitsreformgesetze. Eine Terminservicestelle, wie sie Minister Jens Spahn (CDU) jetzt zum Rund-um-die Uhr-Service für alle machen will, sei im Vertragssystem der AOK überflüssig, betont Dr. Hermann. Die Hausärzte kümmern sich um die Vermittlung zum Facharzt (Termine innerhalb von 14 Tagen, Notfälle umgehend). Und die Fachärzte ziehen gerne mit, da jede Behandlung unbudgetiert bezahlt wird, erklärt Dr. Norbert Smetak, MEDI-Vize und Chef des Kardiologenverbandes.

26 % mehr Geld für die Hausärzte

Die „Alternative Regelversorgung“ mit HzV und Facharzt-Selektivverträgen macht sich für die AOK im Ländle bezahlt. Die Botschaft von der Wirtschaftlichkeit ihrer selektivvertraglichen Versorgung untermauert die AOK Baden-Württemberg mit folgenden Zahlen: 618 Mio. Euro hat sie 2017 dafür aufgewendet – 442 Mio. Euro für die HzV, 141 Mio. Euro für die Facharztverträge und 35 Mio. Euro für die Zuzahlungsbefreiung der eingeschriebenen Versicherten bei Arzneimitteln. Verglichen mit den Ausgaben, die in der Regelversorgung zu zahlen gewesen wären, ergibt das laut AOK-Chef Dr. Christopher Hermann eine Ersparnis von 50 Mio. Euro im Jahr 2017. Bei der Finanzierung rechnet er so: 349 Mio. Euro stammen aus der Bereinigung der KV-Überweisungen und 319 Mio. aus vermiedenen Ausgaben für Krankenhaus-, KV-Einzel- und sonstige Leistungen sowie für die Arzneitherapie. Nach Angaben von Professor Dr. Joachim Szecsenyi, Ärztlicher Direktor der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Uniklinikum Heidelberg, zahlte die AOK 2016 pro Versicherten für die Leistungen beim Hausarzt in der HzV 26 % mehr als in der Regelversorgung. Dennoch waren die gesamten Kosten der Kasse pro HzV-Teilnehmer um 8,2 % niedriger als in der Nicht-HzV. Prof. Szecsenyi führt das insbesondere auf die Einsparungen im Klinik­bereich von 5,3 % und bei Arzneien von 6,2 % zurück. „Die Zahlen zeigen, dass die HzV der Regelversorgung überlegen ist.“ Auf Fragen zu Zweifeln des Bundesversicherungsamtes an der Zulässigkeit vertraglich vereinbarter Diagnosekodierungen – etliche Kassen haben ihre Betreuungsstrukturverträge wegen monierter Upcoding-Honorierungsanreize stillgelegt –, reagieren AOK- und Hausärzteverbandsvorstände gereizt. Da ist schnell von Diskreditierung, Diffamierung oder Pervertierung die Rede. So verkündet Dr. Hermann: „Der Morbi-RSA hat uns noch nie interessiert!“ Man habe in der HzV von Anfang an die Chronikerregelung des Gemeinsamen Bundesausschusses angewendet. Die Aufsichtsbehörde, die auch für die Zuweisungen des GKV-Risikostrukturausgleichs zuständig ist, erweise mit ihrer Sicht auf die Selektivverträge der Versorgungssteuerung einen „Bärendienst“.

Dr. Berthold Dietsche, Vorsitzender des Haus­ärzteverbandes Baden-Württemberg, unterstreicht: „Vor zehn Jahren haben wir von einer historischen Wende gesprochen – die ist eingetreten.“ Mit der Einschreibung sei ein freiwilliges Primärarztsystem eingeführt worden. Darauf basiere die Patientensteuerung. Pro Jahr gibt es 2,1 Mio. mehr Hausarztkontakte und 1,2 Mio. weniger unkoordinierte Facharztkontakte in der HzV als in der Regelversorgung. In der HzV sind 1,6 Mio. AOK-Versicherte eingeschrieben. Knapp 5000 Haus- und Kinderärzte machen mit.

Facharztprogramm wird weiter ausgebaut

Die Kombination der HzV mit sechs Selektivverträgen für Kardiologie, Gastroenterologie, Psychiatrie/Neurologie/Psychotherapie, Orthopädie, Urologie und Diabetologie, an der sich 2500 Ärzte und Psychotherapeuten beteiligen, gibt es nur im Südwesten. Die AOK kündigt für 2019 weitere Verträge zu HNO, Pulmologie und Nephrologie an. Außerdem will man endlich den Bogen zur stationären Versorgung hinbekommen. Seit einem Jahr wirbt MEDI beim Bundesgesundheitsministerium für eine finanzielle Förderung der Facharztverträge per Gesetz, damit die Kassen einen Anreiz für Abschlüsse erhalten, berichtet Dr. Smetak. „Bisher leider ohne Erfolg.“ Wie haben sich zehn Jahre HzV auf die Praxen ausgewirkt, wurde Dr. Dietsche von Journalisten gefragt. In der HzV mit seinen unbudgetierten, stark pauschalierten und bis zu 30 % höheren Honoraren als im KV-System entfalle die Motivation, Patienten einzubestellen, um noch ein „EBM-Nümmerchen“ abrechnen zu können, antwortete der Hausarzt. „Man hat weniger das Gefühl, in der Mühle drin zu stecken, als das früher der Fall war.“ Die HzV sieht u.a. eine kontakt­unabhängige Jahrespauschale von 75 bzw. 80 Euro pro HzV-Teilnehmer (ohne/mit Facharztprogramm) vor, eine kontaktabhängige Pauschale von 40 Euro pro Quartal und einen Zuschlag für Chroniker von mindestens 25 Euro.

Digitale Vernetzung von Haus- und Fachärzten

Die Zusammenarbeit der Mediziner im Haus- und Facharztprogramm der AOK Baden-Württemberg soll ab 2019 durch „optionale Anwendungen in die Vertragssoftware“ digital verbessert werden. Zunächst geht es um die elektronische Weiterleitung des Musters 1a der AU-Bescheinigung an die Krankenkasse, die Ablösung des Faxes durch den elektronischen Arztbrief sowie das elektronische Medikationsdossier. Letzteres zeigt allen an der Behandlung beteiligten Praxen die Arzneitherapie an; fachärztliche Änderungen oder Ergänzungen bleiben solange unter Vorbehalt, bis sie vom Hausarzt bestätigt werden. Die von AOK, Hausärztlicher Vertragsgemeinschaft und dem MEDI-Verbund entwickelten Ergänzungen der Vertragssoftware können in die Praxisverwaltungssysteme integriert werden, heißt es. Die Nutzung der neuen elektronischen Möglichkeiten werde von der AOK vergütet. Für die Ärzte ist die Teilnahme freiwillig.

Die Haus- und Facharztverträge der AOK wirken nachhaltig, stellt Professor Dr. Ferdinand M. Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt/M., mit Blick auf die nun mehrere Jahre umfassende Evaluation fest. Bei vielen Projekten seien die Effektivitäts-, Effizienz- und Zufriedenheitseffekte nur ein Strohfeuer. Nicht so hier: „Die HzV-Vorteile werden von Jahr zu Jahr deutlicher!“ So ging bei den Krankenhausaufnahmen von KHK-Patienten die Schere zwischen der vorteilhafteren HzV und der Nicht-HzV von 2011 bis 2016 weiter auf. Bei 166 000 KHK-Patienten fielen jährlich ca. 46 000 weniger Krankenhaustage an. Bei Diabetikern in der HzV konnten in Jahren 2011 bis 2016 rund 4000 schwerwiegende Komplika­tionen wie Dialyse, Erblindung und Amputationen vermieden werden. In der HzV sind es jährlich 5400 Patienten im Alter von über 65 Jahren weniger, denen „potenziell inadäquate“ Arzneimittel verordnet werden.Bezogen auf 692 000 Versicherte, die 2012 bis 2016 an der HzV teilnahmen, traten 1670 weniger Todesfälle auf als bei Patienten von Nicht-HzV-Ärzten. „In dieser Hinsicht ist die HzV ein Blockbuster“, findet Professor Dr. Joachim Szecsenyi von der Universität Heidelberg, der an der Evaluation beteiligt war.

Gesundheitsweise sind für mehr Patientensteuerung

Dr. Dietsche erklärte die Verbesserungen u.a. mit der leitlinien­orientierten Fortbildung. Rund 320 Qualitätszirkel und 120 Frontalveranstaltungen gebe es sowie über 100 MFA-Qualitätszirkel mit durchschnittlich 15 Teilnehmerinnen. Prof. Gerlach, der auch Vorsitzender des Sachverständigenrats fürs Gesundheitswesen ist, verhehlte nicht die Sympathie der Gesundheitsweisen für eine Patientensteuerung, wie sie andere Länder in Europa hinbekommen. Hierzulande drehten sich ambulant wie stationär die Hamsterräder, sagte er mit Verweis auf die hohe Zahl an Arztkontakten und stationären Aufnahmen. Die Folge seien ausge­laugte Mediziner und Pflegekräfte. In der aktuell günstigen Wirtschaftslage könnte man die notwendigen strukturellen Änderungen eigentlich gut angehen – es fehle dafür aber der politische Druck.
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