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Praxiskolumne Die Alltagsqual ist digital

Autor: Dr. Jörg Vogel

Die Abhängigkeit von unausgereifter Technik frustriert. Die Abhängigkeit von unausgereifter Technik frustriert. © iStock/z1b
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Der Alltag in der Arztpraxis könnte so entspannt sein, findet unser Kolumnist. Wäre da nicht die unausgereifte Technik, die immer wieder alles lahmlegt.

Wenn ich morgens in die Praxis komme, höre ich bereits das wohltuende Gebrabbel vorn an der Theke. Eine bekannte Patientin, die soeben zur Blutentnahme erschienen ist, fragt, ob wirklich ALLES abgenommen wird. Denn sie hatte sich gemeinsam mit Dr. Google bereits genau überlegt, was sie heute möchte – nämlich ALLES. Die freundliche Arzthelferin beruhigt sie: „Alles, was der Doktor angekreuzt hat!“ „Ja, aber können wir nicht noch dies und jenes mit machen wegen meiner vielen Beschwerden?“ Dann schließt sich Gott sei Dank die Tür und ich weiß: Es läuft. Und zwar nicht nur das Blut, weil die Helferin hervorragend sticht, sondern auch die Praxis. Sie summt wie ein Bienenschwarm. Und das ist schön.

Es gibt aber auch ganz andere Morgen. Da empfängt mich eine der Helferinnen schon mit dunkelster Gewittermiene an der Tür und stöhnt: „Herr Doktor, das Kartenlesegerät funktioniert wieder nicht. Wir haben schon alles probiert.“ Oder: „Der Konnektor ist schon wieder ausgestiegen. Wir haben auch bereits zehn Minuten den Stecker gezogen – nichts!“ Dann ist der Tag verdorben und ich frage mich zum x-ten Male: „In was haben mich unsere Volksvertreter da bloß ­hineingeritten?“

Sie haben uns per Gesetz von einer unausgereiften Technik abhängig gemacht und natürlich auch vom stetigen Funktionieren des Internets. Wie ein Dealer seine Drogenkonsumenten. Fällt nur eine Komponente aus, steht die Praxis still. Nichts geht mehr. Da hilft auch mein nostalgisches Festhalten an den alten Papierakten nichts. An solchen Tagen möchte ich die Jacke wieder anziehen und einfach gehen: „Dann macht doch Euer Zeug alleine!“ Das macht man aber nicht als Arzt und Arbeitgeber. Wo kämen wir da hin?

Also anrufen. Unseren Mann für die Hardware, der nur 120 km weiter seinen Arbeitsplatz hat. Er könnte sicher in anderthalb Stunden hier sein. Na gut, den möglichen Stau auf der Autobahn mal nicht eingerechnet. Oder geht hier tatsächlich noch etwas per Fernwartung? Das Internet funktioniert schließlich heute noch. Auch sein Anrufbeantworter. Der Mann ist im Urlaub. Oder liegt stationär. Oder einfach noch im Bett. Jedenfalls ist er nicht zu erreichen.

Die Arzthelferinnen vorn geraten in Panik. Eine scheinbar unübersehbare Menschenmenge steht bis draußen an. Unzufriedenes Gemurmel: „Rhabarber ... Rhabarber ... wenigs­tens mein Rezept holen ... Rhabarber ... ich brauche aber die Überweisung ... Rhabarber ... macht der Doktor etwa schon wieder Urlaub?“

Ich versuche inzwischen, mein Softwarehouse zu erreichen, etwa 650 km weg von uns. Inzwischen ist es 9 Uhr und nun sind wohl auch die Computerfreaks dort auf den Beinen. Man kennt sie ja, die drei Todfeinde eines Programmierers: Tageslicht, frische Luft und das unheimliche Gebrüll der Vögel. Wir erhalten endlich den ersehnten Rückruf und dann beginnt die Fernwartung. Faszinierend zu sehen, wie der Mauszeiger über den Bildschirm tanzt.

„Ist doch alles ganz easy“, höre ich den Technikus am beiseitegelegten Telefon murmeln, und „Überall der gleiche Mist ...“ Das lässt mich aufatmen. Wir sind also nicht zu doof für diese Technik, sondern die Technik ist zu doof für uns! Klasse! Gegen 09.20 Uhr ist alles behoben. Der Konnektor konnektet wieder und das Kartenlesegerät spielt Karten (ein). Wunderbar. Auch die überlebenden Patienten sind begeistert. „Geht doch!“, rufen sie. Und die vor der Tür trampeln sich ihre Füße wieder warm. Früher hätten wir sie ja ins Wartezimmer geschichtet, aber durch Corona ging das eben nicht.

Nun werden wir alles abarbeiten. Wer braucht schon eine Mittags­pause? Wir doch nicht – die Gesundheitshelden! Wir fühlen uns wie ­Junkies, die endlich wieder ihren Stoff bekommen haben. Vorausgesetzt wir bekommen noch irgendwoher Rezept-Formulare. Denn die Druckerei druckt ab Januar keine mehr: „Wenden Sie sich an die KV!“, heißt es. Jetzt suche ich nach einer elektronischen Maschine fürs Handauflegen. Möglichst ohne ­Internet.

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