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Gluten-Unverträglichkeit nimmt zu! Nur ein Hype?

Autor: Dr. Cornelia Tauber-Bachmann

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Immer mehr Menschen ernähren sich Glutenfrei - zum Leitwesen vieler Köche. Die medizinisch korrekte Diagnose fehlt bei den meisten. Alles nur Spinnerei, fragt Dr. Cornelia Tauber-Bachmann.

Kochen macht mir Spaß. Natürlich nicht während der Woche, wenn zwischen der Vormittagssprechstunde, Hausbesuchen und der Nachmittagssprechstunde nur sehr wenig Zeit bleibt, sich dieser Tätigkeit zu widmen. Aber am Wochenende! Dann kann ich in Ruhe einkaufen, die Lebensmittel auswählen und zubereiten. Dann genieße ich es, zu kochen und auch ein mehrgängiges Menü zuzubereiten.

Am liebsten freilich in Gesellschaft, sowohl beim Kochen als auch beim Essen. Spitzzüngige Gäste aus dem Kollegenkreis vermuteten deshalb schon, dass die Ausbildung zur Ernährungsmedizinerin mehr oder weniger darin bestehe, wissenschaftlich verbrämte und mit CME-Punkten bedachte Kochkurse zu besuchen. Und manche verlangten auch schon ernsthaft, zum nächsten Kurs mitgenommen zu werden. Ich vermute als Probe-Esser!

Aber wie alle Ernährungsmediziner wissen, ist die Ausbildung de facto eher theoretisch und wissenschaftlich ausgerichtet. Um meinem Hobby zu frönen, meldete ich mich daher mit gleichgesinnten Freundinnen zu einem Kochkurs bei einem richtig guten Profi-Koch an – freilich an einem Wochenendtag. Und so zwischen anatomisch korrektem Zerlegen von Hühnchen und dem Schmelzen von Schokolade für das Dessert taute der Koch und Restaurantbesitzer auf und klagte uns sein Leid: Es gäbe heutzutage kaum noch einen Gast, der ein Gericht einfach so frei weg von der Speisekarte bestelle.

Längst reagieren Köche selbst auf das Reizwort „Gluten“ allergisch.

Vielmehr hätten viele Sonderwünsche: Dieses oder jenes Lebensmittel werde nicht vertragen oder man reagiere darauf allergisch. Längst reagiere er selbst auf das Reizwort „Gluten“ allergisch. Diese Sonderwünsche verkomplizierten den Ablauf in der Küche enorm. Genau genommen klagte er nicht nur, vielmehr ließ er als echter autoritärer Küchenchef durchblicken, dass diese Gäste meist weiblich seien – so zumindest seine Beobachtung.

Der Profi-Koch hielt diese Extra-Würste in den meisten Fällen für zickiges Getue. Doch sein Macho-Gerede machte mich eher ärgerlich und so vergaß ich diese Äußerungen erst mal wieder. Einige Tage später kam eine junge Frau in meine Sprechstunde, die nach ihrem Abitur ein Jahr in Kanada auf einer Farm gearbeitet hatte. Dort war sie in der Koch-Backstube eingeteilt. Zu ihrer Verwunderung musste sie an diesem Arbeitsplatz alle Brote und Kuchen in zweifacher Ausführung zubereiten: einmal wie üblich nach herkömmlichem Rezept und einmal glutenfrei.

Mindestens 50 % der jungen Farmarbeiter aus dem „Work-and-travel-Milieu“ aß nur glutenfrei und so wollte sie neben der Behandlung ihres banalen Infekts von mir wissen, was es damit auf sich habe. Nun halte ich es für wenig wahrscheinlich, dass es eine dermaßen extreme genetische Häufung und Ausprägung von Zöliakie in British Columbia gibt. Und da derzeit kaum eine Woche vergeht, in der sich nicht irgendein Promi mit einer besonderen Ernährungsform „outet“, habe ich den Bericht der Patientin als nordamerikanische Übertreibung abgehakt.

Sollten tatsächlich alle an einer Glutenenteropathie erkrankt sein?

Natürlich finde ich es gut, dass in Nordamerika fast alle Lebensmittel entsprechend gekennzeichnet sind und so den an Zöliakie Erkrankten bzw. deren Eltern der Einkauf erleichtert wird. Das wünsche ich mir hier genauso. Aber seit ein paar Monaten fällt mir auf, dass sich immer mehr Patienten und auch Bekannte von mir – mehr oder weniger – glutenfrei ernähren. Meist ohne entsprechende Labordiagnostik oder Histologie berichten sie von „Wunderheilungen“ was ihre Migräne, ihre permanente Müdigkeit oder ihre psychischen Stimmungsschwankungen betrifft.

Sollten tatsächlich alle, die aktuell eine glutenfreie Diät einhalten, an einer Glutenenteropathie erkrankt sein? Und wenn ja, an welcher Art leiden sie: Autoimmunreaktion, Unverträglichkeit, Überempfindlichkeit, Reizdarm? Ist an dem Hype, dass Weizen uns krank macht, etwas dran? In den Buchläden verkaufen sich die entsprechenden Gesundheitsratgeber „pro und kontra“ anscheinend hervorragend.

Zurück zu den Anfängen: Wenn man die Bilder der dystrophischen Kinder aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts mit den aufgetriebenen Bäuchen sieht, kann man ermessen, welches Glück so eine glutenfreie Diät für sie bedeutet hätte. Vor Entdeckung der Ursache hatten Betroffene denkbar schlechte oder keine Zukunftsaussichten. Sicher gibt es eine nicht unbeträchtliche Zahl von Patienten, die als Erwachsene an einer milder verlaufenden Form der Glutenenteropathie leiden. Aber da lassen sich Antikörper und Zottenveränderungen nachweisen!

Ist an dem Hype, dass Weizen uns krank macht, etwas dran?

Was ist dran an dem Verzicht auf Gluten? Spinnerei? Gesellschaftlicher Trend? Oder gibt es einen realen Hintergrund? So habe ich mir auf meiner letzten Fortbildung für Ernährungsmedizin eine wissenschaftliche Erklärung erhofft. Leider vergeblich! Es gibt weder entsprechende Studien noch plausible Erklärungen und die Experten schwimmen genauso wie wir Frontarbeiter. Da diese Unverträglichkeiten auch meine Gastgeberlaune dämpfen, frage ich meine Gäste vorab nach Allergien und Lebensmittel­unverträglichkeiten. Ob Spinnerei, Hype oder autoimmune Ursache: Es macht die Abende angenehmer.

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