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Impfungen Auch bei Schnupfen und leichtem Fieber sind Immunisierungen möglich

Autor: Dr. Joachim Retzbach

In der Praxis werden Impfungen häufig aufgeschoben, wenn ein Patient zum vereinbarten Termin Schnupfen oder Hus­ten hat. In der Praxis werden Impfungen häufig aufgeschoben, wenn ein Patient zum vereinbarten Termin Schnupfen oder Hus­ten hat. © Ratana21- stock.adobe.com
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In Deutschland wird zu wenig geimpft – vor allem bei den Indikationsimpfungen sind die Quoten oft sehr niedrig. Der Infektiologe PD Dr. Ulrich Seybold räumt einige Missverständnisse zum Thema aus.

Herr Dr. Seybold, impfen wir in Deutschland zu wenig?

Tatsächlich hinkt Deutschland im internationalen Vergleich hinterher. Das betrifft etwa die HPV-Impfung bei Kindern und Jugendlichen, vor allem aber die Indikationsimpfungen. Beispiel Influenza: In Bayern wird nur jede fünfte Schwangere gegen die Grippe geimpft. Dabei ist eine Schwangerschaft gerade keine Kontraindikation, sondern aufgrund des Komplikationsrisikos eine dringende Indikation für die Impfung! Von den über 60-Jährigen ist auch nur ein Drittel geimpft. Für die Pneumokokkenimpfungen liegen die Quoten sogar noch niedriger.

Was hält die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen davon ab, häufiger zu impfen?

Bestimmte Impfanlässe sind noch nicht ausreichend etabliert. Um bei der Grippe zu bleiben: Hier ist es schon lange Konsens und auch von der ­STIKO empfohlen, dass Risikopersonen durch eine Kokonstrategie zusätzlich geschützt werden sollen. Das bedeutet, wer einen chronisch Kranken in der Familie hat, sollte sich ebenfalls impfen lassen. Bedenkt man, auf wie viele Eltern und Großeltern das zutrifft, wird schnell klar, dass sehr viel mehr jüngere Menschen gegen Influenza geimpft sein müssten. Meines Erachtens ist die Immunisierung schon dann indiziert, wenn Kinder hin und wieder ihre vorerkrankte Oma besuchen.

Gibt es noch andere Hürden, die ­einer besseren Impfquote im Weg ­stehen?

In der Praxis werden Impfungen häufig aufgeschoben, wenn ein Patient zum vereinbarten Termin Schnupfen oder Hus­ten hat. Dabei ist eine Erkältung absolut keine Kontraindikation, ebenso wenig Ekzeme oder eine laufende Behandlung mit Antibiotika. Sogar leichtes Fieber unter 38,5 Grad ist kein Ausschlussgrund. Erst ab mäßigem Fieber sowie bei einer schweren, akuten Erkrankung rät das RKI von der Durchführung der Impfung ab.

Es spricht aber auch nichts dagegen, bei einem leichten Infekt ein wenig zu warten?

Wenn die Patienten die Impfung rechtzeitig nachholen, nicht. Aber viele nehmen vereinbarte Impfter­mine nicht wahr oder man sieht sie ohnehin nur einmal, bevor sie wieder den Arzt wechseln. Daher gilt gerade jetzt im Herbst: Jeden Kontakt zum Impfen nutzen! Vor allem natürlich für die Indikations­impfungen. Bei Patienten, die zum ersten Mal in eine Hausarztpraxis kommen, sollte aber ruhig auch einmal der komplette Impfstatus geprüft werden. Nicht wenige haben ihren Impfpass verlegt und können sich gar nicht erinnern, was drinsteht. In solchen Fällen ist es gemäß der STIKO gerechtfertigt, die komplette Grundimmunisierung „auf Verdacht“ nachzuholen. Dabei kann man die Lebensgeschichte der Patienten berücksichtigen: Wer etwa in der DDR aufgewachsen ist, wurde höchstwahrscheinlich als Kind gegen Krankheiten wie Polio und Diphtherie geimpft. Im Zweifelsfall kann und sollten auch diese Impfungen im Erwachsenenalter nachgeholt werden.

Sie haben die HPV-Impfung erwähnt. Wie kann eine höhere Impfquote erreicht werden?

Die Empfehlungen in Deutschland sind restriktiver als in vielen anderen europäischen Ländern. Die gesetzlichen Kassen übernehmen nur die Grundimunisierung für Kinder bis 14 Jahre und ein Nachholen der Impfung bis zum 18. Geburtstag. Nun entwickeln sich Menschen aber sehr unterschiedlich, was ihr Sexualleben angeht. Es gibt viele Personen jenseits von 18 und auch noch jenseits von 30 Jahren, die keine oder erst wenige sexuelle Kontakte hatten. Es ist durchaus sinnvoll, auch sie noch gegen HPV zu impfen, wenn zu erwarten ist, dass sich ihre sexuelle Aktivität ändert. Als Faustregel kann man sagen: Bei weniger als fünf bisherigen Sexualkontakten lohnt sich die Impfung noch, darüber sinkt ihre Effektivität. Erwachsene müssen diese Impfung auch nicht immer privat bezahlen – hier lohnt sich ein Blick ins Kleingedruckte der Krankenkasse.

Welche Impfung wird Ihrer Meinung ebenfalls zu stark vernachlässigt?

Auch bei der relativ neuen Impfung gegen Herpes zoster ist die Impfquote nicht gut. Die Vakzine wirkt extrem gut, der Schutz vor der Post-Zoster-Neuralgie beträgt fast 100 %. Einziger Wermutstropfen: Sie verursacht relativ häufig Nebenwirkungen wie Rötungen, Schwellungen oder ein Krankheitsgefühl. Wenn man die Patienten darauf vorbereitet, kommen sie nach meiner Erfahrung aber gut damit zurecht.

Diesen Herbst ist der zweite Coronabooster ein wichtiges Thema. Wer sollte ihn erhalten?

Die RKI-Empfehlung richtet sich mittlerweile nach der schon seit Anfang des Jahres vorliegenden Evidenz aus Israel. Personen über 60 Jahren haben demnach kurzfris­tig eine um ca. den Faktor 2 reduzierte Infektionswahrscheinlichkeit – nur für einige Wochen, aber immerhin. Wichtiger ist, dass das Risiko eines schweren Verlaufs um ca. den Faktor 4, das eines tödlichen Verlaufs um ca. den Faktor 6 reduziert wird. Falls ein erhöhtes Risiko besteht und die erste Boosterimpfung mehr als drei bis sechs Monate zurückliegt, also unbedingt mit einer omikronangepassten Vakzine impfen!

Was ist mit impffreudigen Menschen, die nicht zur Risikogruppe gehören, aber trotzdem einen zweiten Booster haben möchten?

Mein Eindruck ist, dass viele ausgesprochene Impfbefürworter sich den zweiten Booster schon vor längerer Zeit geholt haben. Für sie stellt sich jetzt vor dem Winter eher die Frage, ob sie sich noch ein fünftes Mal impfen lassen sollen oder nicht. Das Gleiche gilt für Personen, die einmal geboostert sind, aber auch einmal mit SARS-CoV-2 infiziert waren, in der Sprache des RKI also bereits vier „immunologische Ereignisse“ hatten. Das ist, denke ich, eine individuelle Entscheidung, die man davon abhängig machen kann, wie lange die vorherigen Impfungen bzw. Infektionen schon zurückliegen und mit welcher Variante die Ansteckung erfolgte. Eine allgemeine Empfehlung für eine fünfte Dosis gibt die STIKO aber auch in der neuesten, 22. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlungen nicht.

Was möchten Sie impfenden Haus­ärzten noch mit auf den Weg ­geben?

Es gibt zwei neue Impfstoffe: Einen Hepatitis-B-Impfstoff, der nur zwei Dosen innerhalb von vier Wochen benötigt – statt wie bisher drei Dosen über sechs Monate. Wer neu geimpft werden muss oder auf die bisherige Impfung nicht gut ansprach, kann damit nun einfacher und auch effektiver immunisiert werden.

Zudem haben wir seit Februar eine neue, 20-valente Pneumokokkenvakzine. Sie vereint die Vorteile der bisherigen Impfstoffe: Es ist ein Konjugatimpfstoff, deckt aber ein ähnlich großes Spektrum ab wie der aktuelle 23-valente Polysaccharidimpfstoff. Das wird die Impfung deutlich vereinfachen. Eine Empfehlung durch die ­STIKO steht noch aus. Man kann den neuen Impfstoff aber bereits verimpfen und in Einzelfällen wird seine Anwendung auch schon von den gesetzlichen Kassen übernommen.

Interview: Dr. Joachim Retzbach

PD Dr. Ulrich Seybold, Medizinische Klinik und Poliklinik IV, Klinikum der LMU München PD Dr. Ulrich Seybold, Medizinische Klinik und Poliklinik IV, Klinikum der LMU München © LMU Klinikum München