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Endokrine Disruptoren Platz zwei der Lebensbedrohungen

Autor: Maria Weiß/Dr. Susanne Gallus

Viele der Chemikalien sind über EU-Richtlinien reguliert, daher kann es bereits helfen, z.B. bei Farben, Bodenbelägen oder Kinderspielzeug auf entsprechende Qualitätssiegel zu achten. Viele der Chemikalien sind über EU-Richtlinien reguliert, daher kann es bereits helfen, z.B. bei Farben, Bodenbelägen oder Kinderspielzeug auf entsprechende Qualitätssiegel zu achten. © DenisProduction – stock.adobe.com
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Die WHO schlägt Alarm: Endokrine Disruptoren belegen Platz zwei in der Liste der größten Bedrohungen unserer Lebensbedingungen – direkt hinter dem Klimawandel. Wen gefährdet die Exposition mit den hormonell wirksamen Substanzen besonders?

Die unerwünschten Wirkungen von (oral aufgenommenen) hormonwirksamen Substanzen betreffen alle Hormonregelkreise und werden mit zahlreichen Erkrankungen und Fehlentwicklungen in Verbindung gebracht, schreibt Dr. Esther­ Nitsche­, niedergelassene Kinderendokrinologin aus Lübeck. Vulnerabel ist der kindliche Organismus bereits im Mutterleib. Aber auch in der Minipubertät (frühe Säuglingsphase) und in der Pubertät können die Chemikalien für weitreichende Folgen sorgen. Über Veränderungen des Epigenoms der Keimbahn können sogar zukünftige Generationen Schaden nehmen.

Vor allem schwangere Frauen sollten sich von endokrinen Disruptoren fernhalten. Bisphenol A (BPA) oder Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) vermindern beispielsweise die hCG-Produktion und können zu Frühaborten, Präeklampsie und zu intra­uterinen Wachstumsverzögerungen führen. Auch eine gestörte Plazentaentwicklung wird mit endokrin aktiven Chemikalien assoziiert.

Kindliches Gehirn braucht Schilddrüsenhormone

Zahlreiche Substanzen stören zudem den Regelkreis der Schilddrüsenhormone, die pränatal besonders wichtig für die neuronale Entwicklung sind. Ein Mangel an Schilddrüsenhormon in der Schwangerschaft führt beim Gehirn des Kindes zu morphologischen Veränderungen, die sich negativ auf Lernvermögen, IQ, motorische und sprachliche Entwicklung sowie Verhalten auswirken.

Seit den 1990ern beobachteten Forscher in Untersuchungen, dass der durchschnittliche IQ nach kontinuierlicher Zunahme in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher wieder abnimmt. Als Ursache dieses sogenannten negativen Flynn-Effekts wird eine endokrine Disruption der Schilddrüsenhormone vermutet. BPA verändert u.a. die dopaminergen Signalwege. Für die in den meisten Ländern inzwischen verbotenen polychlorierten Biphenyle (PCB) wurde sogar eine direkte neurotoxische Wirkung gezeigt.

Auch über an­dere Hormon­achsen kann das Gehirn geschädigt werden. Das gilt z.B. für das Stresshormonsystem, wo Substanzen wie Nonyl- und Octylphenol, Phthalate und organische Schwermetallverbindungen für anhaltend erhöhte Glukokortikoidspiegel sorgen können. Resultieren daraus epigenetische Anpassungen, kann dies z.B. zu einer lebenslang gesteigerten Stressempfindlichkeit oder einer Immunsuppression führen.

Seit etwa 15 Jahren wird bei Mädchen eine altersbezogene Vorverlegung der Thelarche beobachtet und diskutiert, ob sich auch das auf die zunehmende Belastung mit endokrinen Disruptoren zurückführen lässt. Handfestere Beweise gibt es hinsichtlich der negativen Auswirkungen auf die Fertilität: Pestizide führen z.B. zu einem dünneren Endometrium mit Störung der Nidation, eine Phthalat-Exposition zu Corpus-luteum-Insuffizienz, Frühaborten und einer verminderten Fertilität. Die Entwicklung von Endometriose, Myofibromen des Uterus oder PCOS wären ebenfalls mögliche Folgen der Exposition gegenüber den endokrin wirksamen Chemikalien. Zudem werden die Substanzen für die seit 50 Jahren beobachtete rückläufige Samenqualität bei Männern verantwortlich gemacht. Ein Zusammenhang könnte auch zu dem vermehrten Auftreten von Hypospadien bestehen.

Differenzierungsstörungen als Folge einer prä-, peri- und postnatalen Exposition mit den Substanzen zeigen sich z.B. in Form einer Hypomineralisation des Zahnschmelzes. Im Verdacht steht in diesem Fall insbesondere BPA, aber auch andere Disruptoren. Die „Kreidezähne“ findet man heute bereits bei 15–30 % aller Kinder.

Tipps für den chemikalienreduzierten Alltag

  • Plastik weitgehend aus der Küche verbannen (Behälter, Flaschen, Verpackungen, Geschirr, Küchenutensilien) und unbeschichtetes, emailliertes oder keramikbeschichtetes Kochgeschirr verwenden
  • Plastikbehälter (wenn unverzichtbar) nicht in die Mikrowelle oder Spülmaschine stellen, verkratzte Exemplare entsorgen, Einmalverpackungen nicht wiederverwenden
  • bei Kinderspielzeug auf Plastik verzichten bzw. BPA/PVC-freie und nach EU-Norm produzierte Produkte kaufen, auf Verträglichkeit der Farben achten
  • Kinder, Jugendliche und Schwangere: nur Pflegeprodukte ohne Phthalate, Parabene, Triclosan, Benzophenone (bzw. andere bedenkliche UV-Filter) verwenden (EU-Ecolabel)
  • Schwangere, Säuglinge und Kleinkinder von Renovierungsarbeiten von/mit flammschutzbehandelten Materialien (Böden oder Möbel) fernhalten, regelmäßig lüften und staubsaugen mit HEPA-Filter
  • keine sojabasierte Formelmilch ohne medizinische Indikation geben
  • auf ätherische Öle für Säuglinge und Kleinkinder verzichten
  • nur im Freien und abseits von Kindern imprägnieren
  • unbeschichtete Haushaltstextilien (Tischdecken etc.) nutzen
  • bei Nahrungsmitteln auf Bioqualität, Verpackung und geringe Schwermetallbelastung achten (als wenig belastete Fische gelten derzeit u.a. Heilbutt, Dorsch und Lachs)

Möglicher Zusammenhang mit einer Karzinogenese

Viele Untersuchungen beschäftigen sich außerdem mit der Frage, inwieweit bestimmte Chemikalien über ihre hormonelle Wirkung an der Karzinom­entstehung beteiligt sind. Weltweit steigen die Inzidenzen hormonabhängiger Karzinome wie Mamma-, Endometrium-, Hoden- und Prostatakarzinome an. Eine Kausalität kann bisher nur angenommen werden, einzelne Tierversuche weisen aber auf einen Zusammenhang hin. Es wäre außerdem denkbar, dass endokrine Disruptoren über ihren Einfluss auf den Metabolismus (beispielsweise Appetit und Sättigungsgefühl) die Entwicklung von Adipositas und Diabetes fördern

Was kann man Menschen raten, um die Exposition so gering wie möglich zu halten? Viele der Chemikalien sind über EU-Richtlinien reguliert, daher kann es bereits helfen, z.B. bei Farben, Bodenbelägen oder Kinderspielzeug auf entsprechende Qualitätssiegel zu achten. Außerdem gehören imprägnierte (brandhemmend/schmutzabweisend) Gegenstände bzw. Materialien keinesfalls in den Kindermund. Die Autorin hat einige weitere Vermeidungsmöglichkeiten zusammengestellt (siehe ­Kas­ten).

Quelle: Nitsche EM, Arnold G. Kinder- und Jugendarzt 2022; 53: 675-687