
Verena Bentele im Interview „Soziale Teilhabe ist kein Privileg“

Mit welchen Anliegen von Menschen mit Diabetes beschäftigt sich der VdK?
Bentele: Die Rechtsberatung des VdK hilft Mitgliedern, berechtigte Ansprüche gegenüber Leistungsträgern wie Krankenkassen, Rentenversicherungen und Behörden durchzusetzen. Zwei Beispiele aus jüngster Vergangenheit zeigen, wie wichtig unser Einsatz ist:
- Im April 2024 hat der VdK-Landesverband Hessen-Thüringen für den damals sechsjährigen Anton, der mit Typ-1-Diabetes lebt, vor dem Sozialgericht eine Begleitperson für die Schule durchgesetzt. Die Krankenkasse hatte das zuvor abgelehnt mit der Begründung, dies sei keine Leistung der medizinischen Behandlungspflege. Dazu muss man wissen: Bis Oktober 2023 war die Kostenübernahme durch die Krankenkassen problemlos. Seitdem gilt jedoch eine geänderte Richtlinie zur Häuslichen Krankenpflege, auf die sich die Kassen berufen. Der VdK rät generell zum Widerspruch, wenn dies der Fall ist. Notfalls sollte auch der Weg vor das Sozialgericht nicht gescheut werden. Der VdK begleitet seine Mitglieder beim juristischen Weg und weicht nicht von ihrer Seite.
- In einem anderen Gerichtsverfahren wurde nach über fünf Jahren einem Kind mit Typ-1-Diabetes ein höherer Pflegegrad zugesprochen. Aufgrund der überlangen Verfahren bei Behörden und Sozialgerichten hat die Familie den VdK Nord um Unterstützung gebeten und zu guter Letzt ihr Recht bekommen.
In Ihrem Vortrag geht es um soziale Teilhabe und Gerechtigkeit. Wie hängt beides zusammen?
Bentele: Das Einkommen, die Herkunft oder die gesundheitliche Situation dürfen bei der sozialen Teilhabe keine Rolle spielen. Das ist meine tiefe Überzeugung und dafür kämpfe ich tagtäglich mit dem VdK. Es liegt auf der Hand, dass soziale Gerechtigkeit mit Teilhabe für alle Menschen verbunden ist – angefangen bei der Gesundheitsversorgung über den Zugang zu Bildung und Arbeit bis hin zu barrierefreiem Wohnraum. Die bestehenden Strukturen schließen Menschen mit chronischer Erkrankung oftmals aus. Dabei ist soziale Teilhabe kein Privileg, sondern ein Grundrecht. Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Die Umsetzung zieht sich jedoch seit Jahren hin. Wir brauchen endlich echte Fortschritte, insbesondere im Gesundheitswesen
Wie würde der vom VdK geforderte Systemwechsel die Lage von Menschen mit Diabetes verbessern?
Bentele: Eine ideale barrierefreie und inklusive Gesellschaft ermöglicht allen Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Zunächst muss unabhängig vom individuellen finanziellen Background der Betroffenen die Versorgung verbessert werden. Wie die beiden Beispiele zeigen, müssen wir Ansprüche, insbesondere die von Kindern, immer wieder gegen die Sozialversicherungen und Behörden durchsetzen. Die Versorgungsqualität darf dabei nicht vom Portemonnaie der Betroffenen oder ihrer Eltern abhängen.
Für viele chronisch Erkrankte ist das dauerhafte Neubeantragen von Leistungen oder der erneute Nachweis der Erkrankung eine permanente Belastung. Ein echter Systemwechsel muss auch dieses Problem angehen. Es kann nicht sein, dass Menschen mit Diabetes Leistungen ständig neu beantragen und rechtfertigen müssen, obwohl sie bereits genehmigt wurden. Sie müssen verlässlich, kontinuierlich und barrierearm unterstützt werden. Zudem hat die Erkrankung oft Auswirkungen auf das Arbeitsleben, die Mobilität oder das Sozialleben. Das muss bei der Vergabe von Schwerbehindertenausweisen oder Nachteilsausgleichen stärker berücksichtigt werden. Was auch zu einem Systemwechsel gehört, sind umfassende Aufklärung, Prävention und diskriminierungsfreie Teilhabe. Menschen mit Diabetes und generell Menschen mit chronischen Krankheiten sollten auch sozial Anerkennung und Berücksichtigung finden.