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Praxiskolumne 0ff-Label-Medizin bei Long COVID

Autor: Dr. Cornelia Werner

© klevo – stock.adobe.com
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Schönwetterlagen sind mir am liebsten. Wenn alles absolut verträglich ist, nicht zu heiß, zu kalt, zu nass oder zu stürmisch. Dann gibt es weniger Probleme. Alles kann geplant und in Ruhe ablaufen.

So liebe ich auch Medizin: evidenzbasiert, mit langjährig etablierten Therapien, Zeit für Prävention. Dafür brauchen wir eine „ruhige Wetterlage“, beständige Verhältnisse.

Als ich 2006 meine Approbation erhielt, hatten wir diese Beständigkeit noch. Zumindest fühlte es sich so an. Medizin ist eine sehr logische Wissenschaft: Wenn A, dann B. Es gibt immer wieder neue Erkenntnisse, die wir einfließen lassen in unser Repertoire – aber natürlich gut validiert. Denn: Nihil nocere!

Darauf wurde ich getrimmt. Meine Oberärzt*innen brachten mir die Grundlagen der praktischen Medizin bei, als wir in den Krankenhäusern noch nach dem Prinzip „nichts übersehen“ agierten. Auch wenn der Patient mit einer anderen Hauptdiagnose eingewiesen wurde, so klärten wir doch offensichtlich bestehende anderweitige Pathologien mit ab. Klar, vielleicht hatten wir den Luxus einer „Sicherheitsmedizin“. Eventuell Überdiagnostik? Aber wir waren weit davon entfernt, Patient*innen nur wegen der Einweisungsdiagnose abzuklären und den Rest lapidar fürs nächste Mal oder zur ambulanten Abklärung übrig zu lassen.

Die letzten Jahre haben wenig Beständigkeit mit sich gebracht. Das medizinische Klima wird gebeutelt, fast so wie das Weltklima. Das verändert auch unser Handeln. Wir müssen raus aus der Komfortzone  und uns auf Dinge einlassen, die wir vorher nicht getan hätten.

Nehmen wir an, es gibt ein Unwetter. Teile von Häusern werden vom Wind abgerissen, es drohen viele Menschen obdachlos zu werden und die Folgen von Kälte und Überschwemmung zu erleiden. Ausweichmöglichkeiten gibt es nicht. Angenommen in dieser Situation hätte jemand ein Material, mit dem man weitflächig und schnell die Häuser zumindest absichern könnte. Doch dieses Material ist nur für etwas anderes zugelassen. Wir wissen zwar, wie es sich im Einsatz verhalten wird, aber es gibt keine Haftung bei diesem Einsatz und keine Kos­tenerstattung. Was tun? 

Ja, ich spreche vom Off-Label-Einsatz von Medikamenten bei Long COVID. Wie jeder Vergleich hinkt auch dieser – aber nicht ganz. 

Wir sind in der Pandemie in eine Situation gerutscht, die für uns noch immer neu ist. Setzen wir die Mittel ein, die wir haben, um die ers­ten Schäden zu mindern bzw. um oberflächlich Schlimmeres zu verhindern? Oder schauen wir zu und sprechen den Patient*innen Mut zu: Irgendwann wird es etwas geben! Irgendwann bekommen Sie eine zugelassene Stütze für ihr baufälliges Haus. Bis dahin können Sie  psychologische Begleitung erhalten, denn mehr gibt es nicht. 

Oder noch schlimmer: Negieren wir das Problem? Der Satz „Wir haben dafür keine Evidenz“ gilt nur noch bedingt. Dieses Virus ist seit 2020 tagtäglich erforscht worden. Und das postvirale Syndrom gibt es auch schon lange, es ist nicht COVID-exklusiv. Die Wissenschaftler*innen, die sich damit seit 1969 beschäftigen, haben einiges herausgefunden: die enge Verflechtung des Histaminhaushaltes mit dem Immunsystem, Autoantikörper, die sich gegen körpereigene Strukturen richten, neuroinflammatorische Prozesse. Dabei sind sie sehr gründlich vorgegangen. Es ist (bzw. war) bisher eine klinische Ausschlussdiagnose, etwas, was wir auch bei Depressionen als valide Diagnose akzeptieren.

Worauf ich hinaus möchte: Die Forderung nach Off-Label-Einsatz symptomlindernder Substanzen sollte nicht mit Kopfschütteln beantwortet werden, sondern mit Interesse und Informationswillen. Was wird denn off label eingesetzt? Was sind die Risiken? Und ich bin mir sicher, dass jeder Mediziner für eine Allergie bereitwillig das doch recht harmlose Antihistaminikum aufschreibt. Warum dann nicht dem ME/CFS oder Long-COVID-Patienten?

Wir befinden uns in einer Situation, in der die Patient*innen längst aus ihrer Komfortzone rausgefallen sind – ohne Aussicht auf Heilung. Nach Aufklärung des Patienten fällt mir kein Grund ein, mich nicht selbst aus der Komfortzone zu bewegen und off label gut verträgliche, anderweitig etablierte Medikamente einzusetzen. Denn die Suizidraten unter Betroffenen steigen. Und so lange niemand ernsthaft zur Prävention bereit ist, müssen wir auf notwendige, aber langwierige Forschung warten.

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