Anzeige

Praxiskolumne Abgesang der Präventionsmedizin

Autor: Dr. Cornelia Werner

Täglich kommen neue Patientinnen und Patienten mit Post-COVID in Hausarztpraxen. Wie kommt es dann zum Freedom Day? Täglich kommen neue Patientinnen und Patienten mit Post-COVID in Hausarztpraxen. Wie kommt es dann zum Freedom Day? © MH – stock.adobe.com; MT
Anzeige

Erkrankungen zu verhindern, ist die Kernkompetenz der Allgemeinmedizin. Darum stört unsere Kolumnistin, dass die Coronamaßnahmen aktuell immer mehr zu fallen scheinen.

Warum bin ich Allgemeinmedizinerin geworden, frage ich mich zur Zeit immer wieder. Die Facharztreife für die Innere Medizin habe ich. Und doch war der Wunsch zur hausärztlichen Tätigkeit größer.

Da ist einerseits das Gefühl des Allrounders. Mich interessiert so gut wie jedes medizinische Fachgebiet. Dann ist da die Möglichkeit, Patienten jeden Alters zu behandeln und in ihrem Leben zu begleiten. Doch ein weiterer Aspekt hat mich gereizt – und ist für mich der Dreh-und Angelpunkt meiner Fachdisziplin: die Prävention.

Ein Herzchirurg z.B. wird es gewöhnt sein, stets nur pathologische Befunde zu sehen und zu heilen. Ein kerngesunder Patient stellt sich ihm nicht vor. Das ist bei mir anders. Wenn ich gezielt Gesundheitsaufklärung, Vorsorgeuntersuchungen, Ernährungs-, Lifestyleberatung und Impfungen durchführe, kann ich gezielt und effektiv Krankheiten verhindern. Ja, dies ist natürlich durch Compliance, Lebensumstände oder Prädisposition begrenzt, aber ich kann viel Leid verhindern.

Leider wurde der Prävention selten viel Bedeutung oder gar Wertschätzung entgegengebracht. Den zweijährigen Rhythmus der Gesundheitsuntersuchung hat man auf drei Jahre verlängert. Vitamin D wird selbst bei starker Osteoporose erst bei pathologischen Frakturen bezahlt. Laborvorsorge ist begrenzt auf ein Minimum.

Meine Hoffnung war stets, dass sich das bessert. Und daher trifft mich die aktuelle Entwicklung der Pandemie besonders hart. Als die Gesundheitsämter hier in Baden-Württemberg vorschlugen, die Isolationspflicht bei COVID-19 fallen zu lassen, jubelte eine Kollegin, sie könne die Erkrankung nun endlich wie einen normalen grippalen Infekt behandeln.

Und ich bleibe sprachlos zurück. Ich habe zwar schon von My­algischer Enzephalomyelitis bzw. Chronischem Fatigue-Syndrom nach EBV gehört. Aber etwas Entsprechendes nach einem grippalen Infekt? Long-Grippaler-Infekt? Embolien, Herzinfarkte, Geruchssinnsverlust, Konzentrationsstörungen, Myokarditis, Diabetes, neurologische Erkrankungen? Nein. Und erst recht nicht in diesem Ausmaß – Minimum drei neue Long-COVID-Fälle an einem Tag behandeln wir aktuell in meiner Praxis. Gestern hatten wir dieses „Soll“ schon um 9 Uhr morgens erfüllt. Einer meiner ersten COVID-Patienten erkrankte in der ersten Welle. Leicht. Aber er hat alle Hobbys eingestellt. Er geht zur Arbeit und danach ist er wie erschlagen. Das ist nun zwei Jahre her … Täglich kommen neue Patienten wie er dazu.

Und dann spielt man mit der Idee, eine meldepflichtige Erkrankung nicht mehr zu isolieren? Warum bitte dann überhaupt Isolation und Meldung bei Tuberkulose? Wirklich gesunde Menschen haben damit ja nicht so das Problem. Oder bei Clostridien, Legionellen, Noro, MRSA.

Wir haben keine Heilung für Long-COVID. Unsere Impfungen sind ein Segen, doch schützen nicht vor Infektion. Und nun lassen wir es laufen?! Immer und immer wieder? Denn die Reinfekte haben wir sehr wohl.

Wie kann ich mich über das Feintuning der Herzinsuffizienz bei 80-Jährigen mittels SGLT2-Hemmer oder über neue Insuline freuen, wenn ich gleichzeitig nichts zur Verhinderung dieser Erkrankungen tue? Aktuell dürfen Schüler keine Süßigkeiten als Snack mit in die Schule bringen. Was ich gut finde. Aber sie dürfen trotz positiv getestetem Familienmitglied in die Schule. Und Maske sollen sie auch nicht mehr tragen.

Wir Ärzte dürfen erst nach einer Empörungswelle die Maskenpflicht beibehalten. Es wird über „anlasslose“ Tests diskutiert.

So anlasslos wie das neu eingeführte Hepatitis­screening? Oder wie ­MRSA-Abstriche? HIV-Tests? Bezüglich der Isolation ist Kollege Lauterbach zurückgerudert. Aber dies wird mit den aktuellen Isolationsregeln nicht ausreichen, um Infektionen effektiv zu verhindern.

Ich verstehe dieses wohlhabende Land nicht. Ich brauche nicht mehr Patienten. Die Pharmabranche braucht nicht neue Forschungsbereiche und Medikamentenstudien. Der medizinische Standard in Deutschland macht gerade einen riesigen Rückschritt. Wir werden in Zukunft nur noch aufputzen und flicken. Infektionsschutz ist die beste Prävention. Doch die verschwindet in der Versenkung.

Anzeige