DEGAM-Kongress Allgemeinmedizin ist das Rückgrat der Versorgung

Adressaten für diese Botschaft gab es in Hamburg beim bislang größten Kongress der DEGAM-Geschichte zur Genüge, nahmen daran doch unter den 720 Kongressteilnehmern so viele junge Menschen (rund 20 %) wie nie zuvor teil. Bei manchen der jungen Nachwuchskräfte spürte man während des dreitägigen Kongresses förmlich die große Ehrfurcht vor dem Fach Allgemeinmedizin. Zum Beispiel die große Herausforderung, stets das „große Ganze“ überblicken zu müssen. Oder auch die Furcht davor, aus den vielen Puzzlesteinen der Allgemeinmedizin auch einmal ein kleines Teilchen zu übersehen.
Ängste abbauen
Doch diese Ängste versuchte die DEGAM-Führungsspitze den jungen Menschen zu nehmen. Als Generalist betrachte der Allgemeinarzt nicht primär einzelne Methoden oder Organe, sondern gehe vom "konkreten Menschen und seiner Erkrankung" aus, erläuterte Kongresspräsident Prof. Martin Scherer. Das unterscheide ihn eindeutig vom Facharzt und befähige ihn dazu, den Patienten vor „zu viel und falscher Medizin“ zu schützen. Deshalb sei der Allgemeinarzt mit seiner fundierten fünfjährigen Weiterbildung ein Generalist und Spezialist zugleich, der angesichts von immer mehr Patienten mit Mehrfacherkrankungen künftig mehr denn je gebraucht werde.
Grundsätzlich steige die Wertschätzung für den Generalisten, da er als „Zehnkämpfer in der Medizin“ ausgesprochen vielseitig ist und 80 bis 90 % aller Patientenprobleme allein lösen könne, bekräftigte auch DEGAM-Präsident Prof. Ferdinand M. Gerlach. Dafür gab es in Hamburg auch politischen Rückenwind. Die Allgemeinmedizin ist das „Rückgrat der medizinischen Versorgung“, stellte die Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks und Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) unmissverständlich klar.
Hausärzte verhindern Systemkollaps
Dabei beschränke sich die Arbeit eines Allgemeinarztes nicht nur auf Rezepte, Verordnungen und die regelmäßige Kontrolle oder lediglich auf die Behandlung von Husten, Schnupfen oder Fußpilz, untermauerte Prof. Wilhelm Niebling, Beisitzer im DEGAM-Präsidium. Noch bedeutender sei seine Lotsenfunktion, um unnötige Überweisungen in Krankenhäuser, zu Notdiensten oder zu Fachärzten zu verhindern, erläuterte Niebling dem Allgemeinarzt. Dies sei eine Pionierleistung, die den Kollaps des Gesundheitssystems bisher entscheidend verhindert habe.
Doch werden die Allgemeinärzte ihrer Rolle als Koordinator auch wirklich gerecht? Da wurden in Hamburg doch Zweifel laut, da die Zahl der Arztkontakte in Deutschland offenbar weiter ansteigt. Verantwortlich dafür könnte eine Kombination aus demographischem Faktor, der zunehmenden Multimorbidität und dem Wegfall der Praxisgebühr sein.
Zu viele Arztkontakte
Darauf zumindest hat Prof. Hendrik van den Bussche, ehemaliger Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin des UKE Hamburg, in seinem aufrüttelnden Vortrag hingewiesen. Bisher ist man davon ausgegangen, dass die Zahl der Arztkontakte pro Jahr bundesweit bei 18 und bei den über 65-Jährigen bei 28 liegt. Dies weisen jedenfalls die letzten verlässlichen Daten der Gmünder Ersatzkasse aus, die nach der Fusion mit der Barmer Ersatzkasse zur Barmer GEK heute so nicht mehr erhoben werden können. Van den Bussche wies in Hamburg aber darauf hin, dass bereits vor 10 Jahren 19 % der über 65-jährigen älteren Versicherten mehr als 50 Arztkontakte bei mehr als zehn Ärzten (darunter 3 oder mehr Praxen der gleichen Fachrichtung) aufwiesen. Von den Bussche: „Da muss man sich schon fragen, ob das einer guten Versorgung der älteren Bevölkerung dienlich ist.“ Da dieses extreme Ärztehopping aber auch „Ausdruck von Freiheit und Autonomie“ sei, müsse man davon ausgehen, dass angesichts eines immer größeren Anteils Älterer an der Gesamtbevölkerung die Zahl der Arztkontakte heute noch höher als vor 10 Jahren ist.
Dies wirkt sich natürlich auch auf die Verordnungshäufigkeit von Arzneimitteln aus, da in der Regel umso mehr Medikamente verordnet werden, je mehr Ärzte im Spiel sind. Gut, dass es da die PRISCUS-Liste gibt, die Ärzten als Kontrollinstrument dient, um zumindest zu vermeiden, dass inadäquate Medikamente (PIM) bei älteren Patienten verschrieben werden. Diese Liste wird aber in der Praxis „nicht immer den realen Behandlungssituationen und -bedürfnissen der Patienten gerecht“, hat Nadine Quindt von der Abteilung Allgemeinmedizin der Medizinischen Fakultät der TU Dresden herausgefunden. Dabei sind im Rahmen einer qualitativen Studie bei 7 Hausärzten die Daten von 1 280 Patienten, die im Schnitt 75 Jahre alt gewesen sind, ausgewertet worden. Die Patienten hatten mindestens 2 Dauerdiagnosen und bekamen mindestens 2 Medikamente dauerhaft verordnet. Umgesetzt wurde das Projekt über eine retrospektive Krankenaktenanalyse aus dem Jahr 2012. Fast jeder vierte Patient (23,4 %) erhielt im Rahmen der Dauertherapie mindestens einen PRISCUS-Wirkstoff und damit ein oder mehrere inadäquate Medikamente verabreicht. Fast die Hälfte dieser PIM-Verordnungen betraf Sedativa (48,3 %), 14,7 % entfielen auf Antihypertensiva.
Lebensqualität der Patienten erhalten
Bei den qualitativen Interviews mit den Hausärzten wurden laut Quindt die „Einsatzgrenzen“ der PRISCUS-Liste deutlich. Oberste Priorität für die Hausärzte hat dabei die Lebensqualität der Patienten, die nicht immer mit den Vorgaben aus der PRISCUS-Liste in Einklang zu bringen ist. Zudem klagen Hausärzte über fehlende Medikationsalternativen zur PRISCUS-Liste. Allerdings, so schränkte Prof. Andreas Sönnichsen von der Universität Witten/Herdecke ein, gebe es bis heute „keine Studienevidenz“ für die PRISCUS-Liste. Deshalb sei es auch zu tolerieren, wenn erfahrene Hausärzte ihre Verordnungen in der Praxis stärker auf den individuellen Behandlungsfall ausrichteten.
Und spätestens hier schloss sich wieder der Kreis zum diesjährigen Kongressmotto „Allgemeinmedizin: Spezialisiert auf den ganzen Menschen“. Zwar hat die DEGAM auch bereits beim Thema Multimorbidität und Polymedikation Flagge gezeigt und gemeinsam mit der Leitliniengruppe Hessen eine Leitlinie „Multimedikation“ und zudem eine S1-Handlungsempfehlung „Medikamentenmonitoring“ herausgegeben. Diese Handreichungen sind bisher einzigartig und für den Hausarzt in der Praxis hilfreich. Und dennoch stellte die Medizinstudentin Rebecca Deißer schon bei der Auftaktpressekonferenz fest, dass es bei der Allgemeinmedizin nicht nur auf „Intellekt und Wissen“ ankomme, sondern darauf, wie man seine „gesamte allgemeinmedizinische Expertise“ in den Behandlungsprozess im Sinne des Patienten einbringt.
Anspruchsvolle hausärztliche Arbeit
Da jeder Patient allerdings individuell verschieden ist und demnach auch die Patientenanliegen unterschiedlich sind, sei gerade die Arbeit des Allgemeinarztes besonders anspruchsvoll und fordernd, stellte Prof. Antje Bergmann, Sprecherin der Sektion Studium und Hochschule der DEGAM, abschließend fest. Die Konsequenz daraus ist für Antje Bergmann eindeutig: „Gerade für unser Fach braucht es die Besten, die Flexibelsten, die ganzheitlich denkenden Studierenden.“ Bleibt nur zu hoffen, dass schon in naher Zukunft deutlich mehr junge Mediziner mit diesen Eigenschaften die Allgemeinmedizin tatsächlich „cool“ finden.
Autor:
Raimund Schmid
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2014; 36 (17) Seite 34-37
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.