
Kolumne Bevor wir in Euphorie ausbrechen …

In einem sprechenden Fach wie der Allgemeinmedizin ist der Privatversicherte nämlich gegenüber gesetzlich Versicherten oder HzV-Patientinnen und -Patienten wirtschaftlich betrachtet eher weniger attraktiv. Bisher jedenfalls.
Aber jetzt, man höre und staune, soll sie wirklich kommen: die neue GOÄ. Ja, wirklich. Nicht nur als PowerPoint-Folie auf BÄK-Sitzungen oder ausgedruckt übergeben an Karl Lauterbach, sondern in echt. Also vielleicht. Irgendwann. Aber immerhin: Aus dem Gesundheitsministerium hört man, sie sei „überfällig“ – und wenn die Politik etwas für überfällig hält, passiert ja bekanntlich … naja, irgendwas.
Doch bevor wir in Euphorie ausbrechen, zurück ins Wartezimmer der Realität. Die aktuelle GOÄ stammt von 1996. 1996! Damals lief „Friends“ im Fernsehen, die meisten von uns hatten noch kein Handy, und der Satz „Künstliche Intelligenz in der Praxis“ bedeutete, dass sich regelmäßig gestriegelte Pharmavertretende in den Praxen aufhielten und Hochglanzprospekte (und vieles mehr) verteilten. Seither hat sich einiges geändert – die GOÄ nicht.
Digitalmedizin? Fehlanzeige. Telefonberatung? Unterbewertet. Delegierbare Leistungen? Nix. Wir alle improvisieren seit Jahren – mit analogen Ziffern für digitale Leistungen, mit Analogbewertungen und Kommentaren, die mehr Papier brauchen als der eigentliche Befundbericht. Und während wir mit schlechtem Gewissen steigern und argumentieren, kassiert die Autowerkstatt 120 Euro die Stunde für den Ölwechsel.
Also: Was bringt die neue GOÄ? Offiziell eine Modernisierung, die Leistungen zeitgemäß abbildet und die Ärzteschaft fair entlohnt. Faktisch aber möglicherweise einfach einen neuen Katalog, über den sich spätestens nach dem zweiten Abrechnungsquartal wieder alle aufregen. Aber man soll ja nicht immer alles schlechtreden.
Laut Entwurf soll es rund 5.500 Positionen geben (statt der jetzigen ca. 2.800), viele davon mit klareren Leistungsbeschreibungen. Klingt erstmal nicht schlecht. Auch Telemedizin, strukturierte Beratungen, Chronikerbetreuung und psychosoziale Gespräche sollen besser abgebildet werden.
Die Bewertung? Nun ja – man munkelt von regelmäßigen Anpassungen der Beträge an die Inflation. Wobei wir alle wissen, wie relativ „angepasst“ in der Gesundheitspolitik sein kann. Die Krux ist aber letztlich: Wer zahlt? Die Privatversicherungen sind – sagen wir – nur mäßig begeistert. Klar, eine neue GOÄ bedeutet höhere Kosten. Und höhere Kosten passen nie gut ins Geschäftsmodell. Schon jetzt kündigen manche PKVen an, dass sie „prüfend begleiten“ wollen. Heißt möglicherweise: mehr Diskussionen und mehr Kürzungen und Streit um Analogbewertungen – die es offiziell dann gar nicht mehr geben soll.
Und wir in der Praxis? Ich sehe es kommen: Erst lernen wir den neuen Katalog auswendig (Spoiler: Tun wir nicht!), dann kommen neue Softwareupdates (die wie immer am Montagmorgen nicht funktionieren) und schließlich erklären wir tausendmal, warum das Beratungsgespräch jetzt auf einmal eine Ziffer 0815b mit Zuschlag X und Faktor Y ist. Fakt ist: Wir werden uns wieder anpassen müssen.
So what: Die GOÄ neu wird endlich kommen und wir hoffen, dass sich unsere Anpassungsleistung lohnt. Aber wir sollten die neue Gebührenordnung kritisch begleiten, unbedingt. Nur wer seine Leistungen kennt, kann sie auch abrechnen. Und nur wer abrechnet, kann sich am Ende leisten, für die Patientinnen und Patienten da zu sein.
In diesem Sinne: Augen auf bei der Ziffernwahl – und bitte nicht vergessen, auch mal die Ziffer 1 zu setzen. Die gibt’s nämlich immer noch. Auch in der neuen GOÄ.